Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung. Walter J. Dahlhaus

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Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung - Walter J. Dahlhaus aethera

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      •Und noch ein Abspüren einer stimmigen Benennung: Das Buch behandelt die Not von Menschen. Ich halte es aber nicht für passend, von »Patienten« (d. h. »Leidenden«) zu sprechen. Auch der häufig gebrauchte Begriff des »Klienten« beschreibt nicht wirklich, worum es geht, nämlich um Beziehung, um adäquate unterstützende Beziehungsgestaltung. Am ehesten scheint mir dies in dem Begriff des »Betroffenen« zu liegen – im Sinne von »dem, um den es geht« – oder auch in dem Begriff »des anderen« als Bezeichnung für einen Menschen, der einem gegenübersteht.

      In den angeführten Beispielen verwende ich meist den Vornamen, auch bei Erwachsenen. Dies spiegelt meine persönlichen Beziehungserfahrungen im sozialtherapeutischen Alltag – auch in der Gegenseitigkeit. Die Namen der in den Fallbeispielen genannten Menschen wurden zu ihrem Schutz geändert.

       unterschiedliche Blickwinkel

      •Die Schilderungen des Buches nehmen immer wieder unterschiedliche Blickwinkel ein. Zum einen schreibe ich von mir und persönlichen Erfahrungen und Einschätzungen. Dann spreche ich von »mir« oder sage »ich«. Dann wieder spreche ich von »uns« oder sage »wir« – hier nehme ich die Position möglicher Begleiter oder Bezugspersonen mit herein.

      •Seit vielen Jahren bin ich dankbar für Worte, die helfen können, besondere Zustände besser zu erfassen, die aber auch mir selbst helfen können, mich besser und aus einem tieferen Verständnis heraus auf diese Zustände einzustellen und einzulassen. Die Dichtkunst, die Fähigkeit der Dichterin, des Dichters, etwas Wesentliches ins »ver-dichtete« Wort zu führen, Geistiges fassbarer auszudrücken, ist mir eine tägliche Hilfe, mich angesichts der oft großen Herausforderungen, Verdunklungen und Verwirrungen, die seelische Leiden mit sich bringen, immer wieder selber aufzurichten und den Blick wieder frei auf das dahinterstehende, auf das eigentliche Wesen des anderen zu richten. Einige Beispiele solcher Worte sind den einzelnen Kapiteln vorangestellt oder tauchen im Verlauf eines Kapitels auf.

      •Die Hinweise auf ergänzende Literatur (siehe Seite 422 ff.) sind sehr begrenzt und subjektiv. Viele weitere sehr wesentliche Veröffentlichungen könnten zu jedem Kapitel genannt werden. Die hier angegebenen können als anfänglicher Hinweis zu einer Vertiefung des Geschilderten verstanden werden.

       zum Umgang mit dem Buch

       zwischen den Zeilen lesen

      •Zum Umgang mit diesem Buch: Liest man es von vorne bis hinten, hat das gewisse Vorteile, da einzelne Bereiche aufeinander aufbauen, Begriffe entwickelt und wieder aufgegriffen werden. Es ist aber auch möglich, die Kapitel für sich zu lesen; zum Beispiel je nach den aktuell anstehenden Fragen bzw. begleiteten Personen. Vielleicht möchte sich eine Leserin oder ein Leser anhand der Beispiele durcharbeiten, die die jeweiligen Kapitel illustrieren wollen, auch das kann sinnvoll sein. Bei wieder anderen kann es sein, dass sich das Bedürfnis oder die eigene Fragestellung zunächst auf die menschenkundlichen Hinweise richtet. Möglicherweise kann das Buch aber auch von hinten nach vorne gelesen werden, beginnend mit inneren Fragen wie der nach der »Selbstfürsorge« oder auch dem »Ausblick«, wenn mehr die innere Seite der Heilpädagogik gesucht wird. Vor allem aber hoffe ich, dass das Buch auch »zwischen den Zeilen« gelesen wird – denn das »Sagbare« ist doch begrenzt, die innere Seite überragt das gedruckte Wort oft um ein Vielfaches.

      Bevor die einzelnen Formen seelischer Erkrankungen beschrieben werden, möchte ich grundlegende biografische Aspekte anführen. Zum einen, weil wir den Menschen vornehmlich vor dem Hintergrund seiner biografischen Bedingungen verstehen müssen, im Gesamtzusammenhang seines gelebten Lebens, mit all seinen fördernden oder verhindernden Aspekten. Es gilt daneben aber auch, übergeordnete Aspekte biografischer Entwicklung zu beschreiben, um dadurch möglicherweise auch die individuelle Biografie besser verstehen zu können.

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       Seelische Entwicklung und Biografie

       Vor jedem steht ein Bild des, was er werden soll: Solang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll.

       Friedrich Rückert

      Jede Biografie, jede biografische Entwicklung ist einmalig und einzigartig. Jeder Mensch bemüht sich um ein »Gelingen«, ein »Bewältigen« seiner Biografie. Manche Menschen ringen darum.

      Es gibt keine äußeren Anhaltspunkte, an denen sich festmachen ließe, ob dieses »Bewältigen« gelungen ist oder unvollständig bzw. unerfüllt bleibt.

       Gefühl von Stimmigkeit

      Letztlich wird allein ein Gefühl von Stimmigkeit, von Kohärenz hier entscheidend sein. Ob dieses gelebte Leben dem eigenen »Schicksal« entspricht, das eigene Schicksal erfüllt – ob es »mein Leben« ist, das kann nur der jeweilige Mensch selbst spüren.

      Dazu ein Gedanke aus der Schrift Die Lebensalter von Romano Guardini: »Die menschliche Existenz kann unter vielen Gesichtspunkten betrachtet werden, und es gehört zu ihrem Wesen, dass sie unter keinem zu erschöpfen ist. […] Der Mensch charakterisiert sich immer neu. Seine körperlich-seelischen Zustände wechseln beständig. […] Trotzdem ist es immer der gleiche Mensch, um den es sich handelt. Die Verschiedenheit der Zustände hebt die Einheit nicht auf, sondern diese behauptet sich in jener. Noch in der scheinbaren Zerstörung ist sie durch das Moment des Schicksals zu ahnen.«3

       Bejahung der Bedingungen

      Die Fähigkeit jedes Einzelnen, sich belastenden, herausfordernden oder auch widrig erscheinenden Bedingungen des eigenen Lebens zu stellen, kann entscheidend sein. In der Möglichkeit der Anerkennung und vielleicht auch der Bejahung der Bedingungen liegt eine unerschöpfliche Kraft. Damit ist in keinem Fall ein resignatives Hinnehmen gemeint im Sinne von »Ich kann ja sowieso nichts daran ändern«, sondern die Befähigung, sich innerlich aktiv den gegebenen Bedingungen zu stellen, soweit wir sie nicht zu verändern vermögen. Das Wort »Schicksalsakzeptanz« mag diesen aktiven Prozess beschreiben. Oder wie es der schon schwer erkrankte Dichter Christian Morgenstern in seinem Tagebuch festhielt: »Kein Augenblick ohne ein Ja!«4

       das eigene Schicksal finden

      Es ist die vorrangige ärztliche wie therapeutische Aufgabe, dem anvertrauten Menschen zu helfen, »sein Schicksal« zu finden. Und Krankheit verhindert nicht dieses Schicksal – sondern ist Teil desselben!

      Menschen mit Assistenzbedarf brauchen im tiefsten Sinne dieses Wortes gerade hier Unterstützung, bis hin zur Eröffnung neuer und erweiternder Blickwinkel. Ich empfinde es immer wieder als tief berührend, wenn Menschen mit ausgeprägten kognitiven, neurologischen, motorischen oder auch anderen Beeinträchtigungen eine solche Schicksals- und damit Selbstakzeptanz ausstrahlen – und dabei häufig durchaus auch ansteckend wirken. Darin können uns diese Menschen oft ein leuchtendes Vorbild sein.

      Dies scheint mir wesentlich zu sein: Seelische Gesundheit ist stark mit der Bewältigung bzw. Akzeptanz der eigenen Biografie verbunden.

       belastete Persönlichkeitsentwicklung

      Die Persönlichkeitsentwicklung von Menschen mit Intelligenzminderung ist hier oft in einem besonderen Maße belastet. Viele der Betroffenen erleben schon früh eine geringe Akzeptanz

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