Heimische Exoten. Mareike Milde
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Ich steige flink hinauf und nehme Platz in einer ausladenden Astgabel, etwa zweieinhalb Meter über dem Boden. Früher hätten wir uns hier ein Baumhaus gezimmert, wenn es nicht so tief im Wald gewesen wäre. Behutsam packe ich Kamera, Feldstecher, Teekanne und Notizen aus und verstaue sie in einer Baumkuhle. Zur Sicherheit gebe ich meiner Freundin noch die Koordinaten durch; vielleicht hat sie ja Lust, mich zu retten, sollte ich vom Baum fallen.
Zu Beginn bin ich noch zappelig, doch nach und nach breitet sich in mir Ruhe aus. Nichts passiert, alles ist ganz friedlich. Ich kann mir vorstellen, dass das stille Warten auf Aktivität ein Teil der Faszination ist, die ein Jäger bei seiner Arbeit empfindet. Es ist wie eine Achtsamkeitsmeditation, begleitet von Vogelgezwitscher, Windrauschen und sich langsam und bedächtig bewegenden Baumkronen. Weit hinten sehe ich ein laut gackerndes Pärchen über den Waldweg gehen, sie halten sich an der Hand und küssen sich immer wieder, sie sehen mich nicht. Ganz still sitze ich hier und mache keinen Mucks. Es ist, als ob ich eins werde mit der Astgabel, mit dem Wald, mit all dem Drumherum.
Überall, wo das Sikawild lebt, gibt es immer wieder Diskussionen über einen Totalabschuss. Dies liegt unter anderem an größeren Rindenschäden durch genüssliches Abknabbern, welches gerade junge Bäume nachhaltig schädigen kann. Auch heimisches Wild »schält« – so lautet der korrekte Begriff – junge Laubbäume, weswegen viele Gegner Probleme in der vermehrten Zerstörung und zu große Gesamtschäden von beiden Wildarten ausgehen sehen. So gibt es seit Jahren sehr engagierte Diskussionen zwischen Förstern, Jägern und Sikawildbefürwortern im Arnsberger Wald in Nordrhein-Westfalen. Hin und wieder wurde die Hoffnung geäußert, der Wolf könne sich schnellstmöglich wieder in den Wäldern Nordrhein-Westfalens ansiedeln, damit der Artenbestand auf natürliche Weise dezimiert und so in Schach gehalten wird. Das ist bisher noch nicht passiert. Und ob man dem Wolf erklären kann, dass er vorzugsweise das gebietsfremde Sikawild reißen soll und vom heimischen Rotwild bitte die Zähne lässt, bleibt abzuwarten. Wohl aber hat sich der wiedererstarkte Luchs als Reißer des Wildes bemerkbar gemacht. Die Zahlen sind aber noch zu gering, um eine deutliche Bestandsminderung zu erwirken.
Im Schaffhauser Wald ist man nun dazu übergegangen, in Aufforstungen Eschen, Fichten und Douglasien einzeln zu ummanteln, damit sie überhaupt die Chance haben, gesund zu wachsen.
In einigen Regionen wird Sikawild immer noch in Gehegen gehalten und für den Fleischverzehr gezüchtet. Es eignet sich sehr gut für eine deftige grobe Bratwurst, die man vor allen Dingen zur Winterzeit auf Weihnachtsmärkten in Revierförstereien zu essen bekommt.
Seit einer Stunde sitze ich nun schon unbeweglich auf meinem hölzernen Thron, ich bin regelrecht verwurzelt mit dem Baum, da knackt es leise unter mir im Gehölz. In meinen Augenwinkeln sehe ich ein weißgetupftes Getier, das am Boden schnüffelt. Ganz langsam drehe ich den Kopf und wir blicken uns einen Moment an, der Sikahirsch und ich. Sein Geweih ist noch nicht sehr groß und es hat erst zwei Verästelungen. Er wird es im April oder Mai abgeworfen haben; bis zur nächsten Brunftzeit im September wird es wieder groß sein, damit er bei seinen Rivalen einen guten Stand hat und die Damenwelt beeindrucken kann. Er ist allein unterwegs und ich staune, dass mir wirklich ein Sikahirsch als erstes wildes Tier in diesem Wald über den Weg läuft. Die Hirsche sind meist allein unterwegs, nur die jungen Männchen rudeln sich in Jungsgruppen zusammen. Die Sikakühe leben am liebsten mit ihren Mädels in Zehnergruppen zusammen. In der Brunftzeit, also im September, beginnen die Revierkämpfe der Männchen, und wer die Damen am meisten beeindruckt, darf einen Harem von vier bis sechs Weibchen gründen – aber nur, wenn er denn auch gut riecht. Und das erreicht das Sikamännchen, indem es sich eine Kuhle scharrt, diese mit seinem Urin füllt, und sich anschließend ausgiebig darin suhlt. So parfümiert und eingesalbt schmelzen die Damen dahin und sind zutiefst beeindruckt, sofern er auch noch einen guten Kampf abliefert. Das übliche Einparfümieren gibt es also nicht nur in der Menschenwelt, sondern es spielt auch in der Sikawelt eine wesentliche Rolle.
Sobald der Haremsclub steht, muss er immer wieder gegen rivalisierende Hirsche verteidigt werden. Bei den Kämpfen krachen die frisch gewachsenen Geweihe aneinander, dass es nur so knallt, und auch wenn der Hirsch seine Damen erfolgreich verteidigen konnte, fängt der Stress jetzt erst an, denn er hat eine Mission. Bei sechs Damen ist er ganz schön beschäftigt, weshalb er in der Brunftzeit rund 30 Prozent seiner Körpermasse verliert. Wer hat schon Zeit zu fressen, wenn es um nichts weniger als den Erhalt der eigenen Art geht.
Das Sikawild ist in Deutschland als potenziell invasiv eingestuft. In allen Ländern wird immer wieder darüber diskutiert, ob es auf die Black List der unerwünschten Arten aufzunehmen ist. Noch ist dies nicht erfolgt, weder in der Schweiz noch in Deutschland. Der Grund für die Überlegung sind nicht nur ihre Fressgewohnheiten – Wurzeln und Stämme heimischer Bäume –, sondern auch die mögliche Hybridisierung mit heimischem Rotwild. In einem wissenschaftlichen Experiment von Forschern der britischen Universität Sussex und des Museums für Naturgeschichte im französischen Obterre wurde herausgefunden, dass sich die Sikadamen nämlich sehr gerne mit den Rothirschmännchen paaren. Und das, obwohl sich der Paarungsruf eines Sikahirsches als trillerndes Pfeifen mit anschließendem Brummen sehr von dem tiefen Röhren eines Rothirsches unterscheidet. Diese unterschiedlichen Laute werden sich aber erst ausgebildet haben, nachdem sich die Populationen voneinander getrennt hatten, damals vor Millionen von Jahren. Und im evolutionären Gedächtnis der Sikadamen hat das tiefe Röhren ihrer Urahnen immer noch einen Platz im Herzen, sodass einer Paarung nichts im Wege steht. Andersherum, also von Sikahirsch zu Rothirschdame, funktioniert die Paarung übrigens erst, wenn sich das Wild über längere Zeit aneinander gewöhnt hat und die Laute des jeweils anderen (das Sikawild hat zehn verschiedene Klangrufe!) kennengelernt hat. Die Sorge der Sikagegner besteht nun darin, dass sich Nachkommen aus diesen beiden Arten zu einer komplett neuen, urheimischen Art entwickeln und das eigentliche Rotwild nach und nach ausstirbt. Diese sogenannten Hybride, also eine Mischung aus zwei Arten innerhalb einer Familie, gälten mit ihrer Geburt höchstwahrscheinlich als neue heimische Tierart, und nicht wie das Sikawild als Neozoen. Einige von diesen Mischwesen soll es bereits an mehreren Orten geben und sie sind auch als eigenständige Gattung fortpflanzungsfähig. Eine neue Art unterstünde dann natürlich auch dem heimischen Jagdrecht samt aller Schonfristen und Auflagen, und dass es dazu kommt, möchte man vielerorts unterbinden. In Schaffhausen gibt es kein Rotwild; hier besteht diese Gefahr nicht. Im Arnsberger Wald konnte man bislang auch noch keine Hybride feststellen, allerdings kann es grundsätzlich sein, dass solche Nachkommen optisch gar nicht erkennbar sind, sondern nur über genetische Tests klassifiziert werden können.
Kurz bin ich abgeschweift und habe fast vergessen, darüber zu berichten, was sich seit ein paar Minuten unter mir abspielt. Eigentlich spielt sich aber auch nichts ab. Der Sikahirsch schaut mich immer noch an, ich schaue den Sikahirsch an, wir beide sind unbeweglich und neugierig. In Zeitlupe strecke ich meine Hand