Heimische Exoten. Mareike Milde
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Genauso blieben übrigens auch die Einwände einiger Politiker und Tierschützer ungehört, wie man auf den flächendeckenden Einsatz eines Insektizides setzen könne, dessen Langzeitwirkungen bis zum damaligen Zeitpunkt unbekannt waren. Nun war zu diesem Zeitpunkt des verstärkten Mückenbefalls gerade Fußball-WM in Rio. Sicher wollten sich die Leute nicht für den Fortbestand einer Mücke einsetzen, die ihnen damals jeden entspannten Fußballabend in einem Biergarten verdorben hätte. Somit wurde der Beschluss durchgewinkt, weitestgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit, die bald in stichfreier Ruhe unserer Mannschaft beim Gewinnen zujubeln konnte.
Was auf den ersten Blick sehr angenehm für uns Menschen war, hat einige verstörende Nachwirkungen. So finden wir in den Reusen nur sehr, sehr junge Fische oder riesige Zander und Barsche, um die sieben Jahre alt. Die Generationen dazwischen, die zwei- bis vierjährigen adulten Tiere, fehlen fast vollständig. Der Schluss liegt nahe, dass durch die zerstörten Mückenlarven die jungen Fischgenerationen ab 2014 nicht ausreichend ernährt werden konnten. Eigentlich fehlen drei ganze Generationen von Donaufischen in diesem Areal. Und die alten, riesigen Fische können zwar noch laichen, allerdings nicht mehr in der Menge und Qualität, wie dies die jüngeren Fische tun würden und wie es zum Erhalt einer Artenpopulation notwendig ist. Somit sind die Geburtsjahrgänge bis heute deutlich dezimiert. Ein irrer Kreislauf, der sich mit dem Einsatz eines biologischen Pestizidmittels für einen störungsfreien Fußballgenuss auch nicht mehr rechtfertigen lässt. Oder doch?
Die Befürchtung gegenüber dem Auftauchen des Gelben Drachenwelses ist es nun, dass die ohnehin dezimierten anderen Fischbestände der Donaualtarme von den Drachenwelsen gefressen werden, bevor diese schlüpfen können. Gewöhnlich leben sie hier, bis sie stark genug sind, in die fließenden Gewässer des Donaustroms überzusiedeln. Doch mir erscheint in Anbetracht der anderen Themen diese Gefahr nicht mehr als die dringlichste. Sicherlich sollte durch das Auftauchen des Drachenwelses der dauerhafte Bestand der kleinen heimischen Fischarten nicht stärker als üblich gefährdet werden. Theoretisch entsprechen diese jungen Fische der perfekten Fressgröße des Drachenwelses – neben seiner zweiten Leibspeise, kleinen Muscheln und Insektenlarven. Sollte der Drachenwels als Fressfeind dennoch überhandnehmen, könnte sich der Mensch mittelfristig die Gewohnheiten aus dem asiatischen Raum zunutze machen und die Tiere für die Gastronomie zum Verzehr fangen. Als Fischfilet sollen sie sehr schmackhaft sein, allerdings wäre die Ausbeute bei den bis zu 300 Gramm schweren Tieren mit einem Nettofiletgewinn von 90 Gramm dann doch eher ein kleiner Gruß aus der Küche anstelle eines sättigenden Hauptganges. Ob sich der Aufwand durch den Geschmack rechtfertigen ließe und die in ihrem Essverhalten eher traditionellen Mitteleuropäer dafür offen wären, bleibt abzuwarten.
Heute befindet sich jedenfalls kein Gelber Drachenwels in Michael Hölleins Reusen.
Wir tuckern wieder an Land, ich bin fasziniert von diesem beeindruckenden Stück Fauna, auch wenn der eigentliche Grund meines Kommens heute »nicht pässlich« war. Trotzdem: Der Ausflug war nicht umsonst.
Michael Härtl bringt mich zum Zug; mit einem wehmütigen Gefühl fahre ich davon, Richtung Norddeutschland. Mich beschäftigen so viele Dinge, über die wir heute gesprochen haben. Wenn der Mensch die Natur in ihre Schranken zu weisen versucht, indem er ihre Flüsse begradigt und somit Stromschnellen und Hochwasser begünstigt, wodurch es erhöhte Mückenpopulationen gibt, die dann alle ausgerottet werden, um niemanden zu stören, und dies dann zu einem Einbruch der Populationen weiterer Tierarten führt, weil durch die Ausrottung eines Gliedes in der Nahrungskette Nahrung fehlt – wohin führt das noch? Was hängt an dieser Kette alles dran, worüber wir heute, auf unserem kleinen Ausflug, nicht gesprochen haben? Geht es hier wirklich um eine ernstzunehmende Gefahr, die von einem kleinen asiatischen Welsfisch ausgehen könnte oder sollten wir uns nicht lieber den brutalen Nachwirkungen widmen, die durch die Eingriffe des Menschen am Ökosystem seit Jahrzehnten entstehen? Wäre es nicht sogar denkbar, eine neue Fischart begrüßen zu dürfen, die sich trotz aller Unwirtlichkeit in den Altarmen gut zurechtfinden kann, im Gegensatz zu einigen heimischen Arten?
Fest steht: Ich wurde zum Fan dieses schönen bayerischen Flecks Erde, der lieben Menschen, der zauberhaften Natur, der lauten Blaskapellen. Es wäre so schön, könnten wir ihn erhalten. Ich befürchte aber, das wird sehr schwer. Mach’s gut, schönes Nordbayern.
Auf der Pirsch nach dem Hirsch in Schaffhausen:
Das Sikawild
Als ich anfange, über das Sikawild im Schweizer Kanton Schaffhausen zu recherchieren, beschließt meine Freundin Anna kurzerhand, dass man das prima mit einem Kurzurlaub am Bodensee verbinden könne. Wir packen also unsere Siebensachen, Anna klettert in ihren liebevoll restaurierten, in die Jahr(zehnt)e gekommenen Campingbus und fährt von München aus los, ich selbst steige am nächsten Tag in Hamburg in den Nachtzug. Als ich am nächsten Morgen aus dem Bahnhof Basel komme, wartet Anna bereits bestens gelaunt auf dem Bahnhofsvorplatz mit einem frisch gekochten Kaffee auf mich.
Zusammen fahren wir bei schönstem Sommerwetter die knapp 140 Kilometer in den Kanton Schaffhausen. Vor uns liegen drei gemeinsame Tage nur für uns, Sonne und Camperleben. Wir freuen uns sehr, ein Gefühl von Freiheit, Ausgelassenheit und Sommerwind schwirrt um unsere Nasen, wir kurbeln die Fenster herunter, singen zur Musik und tuckern mit 80 km/h unserem Ziel entgegen.
Die erste Nacht verbringen wir an einem wunderschön ausgestatteten Campingplatz direkt am Rhein im Kanton Schaffhausen, und kurz nach der Ankunft offenbart sich dann der Unterschied zwischen einem zwanglosen Urlaub und einer Recherchereise, sprich: zwischen Anna und mir. Denn während sie in ihre Badesachen springt und sich auf einen entspannten Sommertag am Rhein mit Pommes, ihrem Buch und Eis freut, packe ich Proviant, Mückenspray, Kamera und meinen Notizblock in den Rucksack und stapfe Richtung Schaffhauser Wald, um dem hier lebenden Sikawild zu begegnen.
Das Sikawild wurde vom Menschen eingebracht, dabei war es vor einer ganz schön langen Zeit schon einmal heimisch in Mitteleuropa. Genau genommen vor sieben Millionen Jahren. Damals hörte es – hätte der Homo sapiens denn schon gelebt und sprechen können – auf den Namen Ur-Rothirsch. Als ob vor sieben Millionen Jahren schon jemand den Namen hätte aussprechen können; und als ob das Sikawild dann darauf gehört hätte …
Der Ur-Rothirsch lebte also bereits dort, wo man Deutschland und die Schweiz überhaupt erst vage vermuten hat können, beschloss aber irgendwann, dass das nicht der Nabel seiner Welt sein sollte. Die Ur-Rothirsche trotteten los und wie das immer so ist, bildeten sich irgendwann einzelne Grüppchen. Die einen blieben hier und wurden später – mit »später« meine ich die heutige Zeit, also vor etwa 10 000 Jahren bis zum heutigen Tage – zu den Rothirsch-Beständen in West- und Mitteleuropa. Eine andere Gruppe wanderte gen Osten und entwickelte sich in den Millionen Jahren aufgrund klimatischer Bedingungen, Untergrundbeschaffenheiten und Fressfeinden zu den kleinen, gedrungenen Sikahirschen, die mit maximal 80 Kilogramm bei den Männchen deutlich kleiner und leichter sind als das hier lebende Rotwild. Die kleinen Sikahirsche fanden Heimat im späteren China, in Korea, Sibirien, Japan und Taiwan. Und die dritte Gruppe hatte noch Energie, um weiterzuwandern und schaffte es schließlich – wahrscheinlich über die Beringstraße – hinüber nach Nordamerika. Dort bildeten sie sich zu Wapitis aus, die vom Körperbau den Sikahirschen immer noch recht ähnlich sind.
Da die asiatischen Sikahirsche mit ihren hübschen weißen Flecken auf dem rotbraunen Sommerkleid so niedlich aussahen und weil die Herren mit ihren großen Geweihen eine prima Jagdtrophäe an den Treppenaufgängen der Forsthäuser abgaben, ihr Fleisch zudem noch mild-würzig schmeckte, wurden die Sikahirsche