Metamorphosen. Ovid
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Mitten zwischen Cyane und der aus Pisa stammenden Arethusa [410] liegt eine Bucht, von schmalen Landzungen umschlossen: Dort wohnte Cyane, nach der auch ihr Teich benannt ist – die berühmteste unter den sizilischen Nymphen. Sie erhob sich inmitten des Gewässers bis über die Hüften aus den Wellen und erkannte die Göttin. ‚Keinen Schritt weiter!‘ sprach sie. [415] ‚Du kannst nicht gegen Ceres’ Willen ihr Schwiegersohn werden; du hättest um Proserpina werben, nicht sie rauben sollen. Darf ich Kleines mit Großem vergleichen? So hat Anapis mich geliebt. Doch durch Bitten wurde ich seine Frau, nicht durch Einschüchterung wie diese hier.‘ Sprach’s, breitete die Arme nach beiden Seiten aus [420] und stellte sich ihm in den Weg. Da konnte der Sohn Saturns seinen Zorn nicht länger beherrschen, ermunterte seine schreckenerregenden Rosse und schleuderte mit starkem Arm das Königszepter in die tiefe Flut. Auf diesen Stoß hin gab die Erde den Weg in die Unterwelt frei und nahm den steil abwärts fahrenden Wagen mitten in einem Krater auf.
[425] Doch Cyane grämt sich über die Entführung der Göttin und über die Mißachtung der Rechte ihrer Quelle, trägt still im Herzen eine unheilbare Wunde, verzehrt sich ganz in Tränen und verflüchtigt sich zu dem Wasser, dessen große Gottheit sie eben noch gewesen war. Man hätte sehen können, wie ihre Glieder weich werden, [430] Knochen sich biegen lassen, Nägel die Härte verloren haben. Zuerst löst sich von der ganzen Gestalt jeweils das Feinste auf: das bläuliche Haar, die Finger, die Beine, die Füße – denn schlanke Glieder können leicht in kühle Wellen übergehen –; danach zerschmelzen die Schultern, der Rücken, die Hüfte [435] und die Brust zu feinen Rinnsalen; schließlich dringt in die durchlässig gewordenen Adern Wasser statt des lebendigen Blutes, und nichts Greifbares ist mehr übrig.
Inzwischen hat die Mutter, die sich ängstigt, ihre Tochter vergeblich in allen Ländern und auf allen Meeren gesucht. [440] Weder die Morgenröte, die mit feuchtem Haar aus der Tiefe emporstieg, noch der Abendstern sah sie ruhen. Lichtspendende Fackeln aus Fichtenholz entzündete sie mit beiden Händen am Aetna und trug sie rastlos durch den nächtlichen Rauhreif. Hatte dann wieder das liebe Tageslicht die Sterne erbleichen lassen, [445] suchte sie ihre Tochter vom Land der sinkenden Sonne bis zum Ort ihres Aufgangs.
Von der Mühsal erschöpft, war sie durstig geworden; noch keine Quelle hatte ihr die Lippen genetzt, als sie zufällig eine mit Stroh gedeckte Hütte gewahrte und an die kleine Tür klopfte. Da tritt eine Alte heraus und erblickt die Göttin. Auf ihre Bitte um Wasser gab sie ihr ein süßes Getränk, [450] das sie vorher mit gerösteten Gerstengraupen bestreut hatte. Während die Göttin trank, was man ihr gegeben hatte, pflanzte sich ein trotzig blickender, dreister Junge vor ihr auf, lachte und nannte sie gierig. Sie war gekränkt. Da sie einen Teil noch nicht ausgetrunken hatte, übergoß sie den Jungen, während er noch redete, mit den Gerstengraupen, die unter die Flüssigkeit gemischt waren. [455] Sein Gesicht färbten Flecken, anstelle der Arme hat er jetzt Beine, der verwandelte Leib bekam einen Schwanz. Die Gestalt im ganzen schrumpft, um nicht viel Schlimmes anrichten zu können, und seine Größe ist geringer als die der kleinen Eidechse. Während die Alte staunt, weint und das Wundertier berühren will, [460] flieht es vor ihr und verkriecht sich in einen Schlupfwinkel. Es trägt einen Namen, der zu seiner Färbung paßt; sein Leib ist mit mancherlei Tropfen wie mit Sternen übersät.
Es würde zu weit führen, zu berichten, welche Länder und welche Meere die Göttin durchirrt hat. Für ihre Suche war die Welt zu klein. Endlich kehrt sie nach Sizilien zurück. Während sie wandernd dort alles durchforschte, [465] kam sie auch zu Cyane. Wäre diese nicht verwandelt gewesen, hätte sie alles erzählt; doch als sie sprechen wollte, standen ihr Mund und Zunge nicht zu Gebote, und sie hatte keine Möglichkeit zu reden. Dafür gab sie ein deutliches Zeichen: Den der Mutter wohlbekannten Gürtel, der Persephone gerade hier in der heiligen Quelle entglitten war, [470] zeigte Cyane ganz oben auf dem Wasser. Kaum hatte Ceres ihn erkannt, zerzauste sich die Göttin das ungeordnete Haar, als hätte sie jetzt erst erfahren, daß ihr die Tochter geraubt worden war, und schlug sich wiederholt mit den Händen an die Brust. Noch weiß sie nicht, wo ihr Kind ist, doch macht sie allen Ländern Vorwürfe, [475] nennt sie undankbar und nicht wert ihrer Gabe, des Ackerbaus, an erster Stelle Sizilien, wo sie die Spuren ihres Verlustes entdeckte. Darum zerbrach sie dort mit grausamer Hand die Pflüge, welche die Schollen umbrechen, und ließ die Bauern sterben samt den Rindern, die das Feld bestellen, befahl den Äckern, [480] das anvertraute Saatgut zu unterschlagen, und verdarb den Samen. Siziliens weltberühmte Fruchtbarkeit wird Lügen gestraft: Im ersten Keim sterben die Saaten; bald rafft sie allzu viel Sonne, bald allzu viel Regen dahin; Gestirne und Winde stiften Schaden, und gierig picken Vögel [485] den ausgesäten Samen auf; Schwindelhafer, Burzeldorn und das unausrottbare Gras lassen die Weizenernte nicht gedeihen.
Da hob die Geliebte des Alpheus das Haupt aus ihrem Wasser, das aus Elis kam, strich sich das tropfende Haar aus der Stirn zu den Ohren und sprach: ‚O Mutter der Jungfrau, welche du auf dem ganzen Erdkreis suchst, [490] und Mutter des Kornes, mache der unermeßlichen Mühsal ein Ende und zürne nicht grausam dem Lande, das dir treu ergeben ist! Hat sich doch das Land nichts zuschulden kommen lassen; ohne es zu wollen, war es der Ort für den Raub. Und ich flehe nicht etwa für meine Heimat; bin ich doch als Fremde hierher gekommen. Pisa ist meine Vaterstadt, und ich stamme aus Elis, [495] wohne in Sizilien nur als Zugewanderte, doch ist mir dieser Boden lieber als jeder andere. Hier sind jetzt Arethusas Penaten, dies ist mein Wohnsitz: Rette ihn, du Gnadenreiche! Warum ich die Heimat verließ und so weit übers Meer nach Ortygia komme – dies zu erzählen, wird die rechte Stunde noch kommen, [500] wenn du deiner Sorge enthoben bist und wieder froher aussiehst. Ich kann durch die Erdentiefe dringen; dort tut sich mir ein Weg auf, und wenn ich unten durch die tiefsten Höhlen hindurchgeschlüpft bin, erhebe ich hier wieder mein Haupt und sehe die mir fremd gewordenen Gestirne. Während ich also in stygischer Tiefe unter der Erde hinglitt, [505] sahen dort meine Augen deine Proserpina. Wohl war sie noch traurig und trug Spuren der Angst im Gesicht, doch war sie Königin, die Mächtigste im Reich der Finsternis, die gewaltige Gemahlin des Königs der Unterwelt.‘
Sobald sie diese Worte hörte, erstarrte die Mutter, als wäre sie versteinert, [510] und stand lange wie vom Donner gerührt. Kaum hat das schwere Leid die schwere Benommenheit vertrieben, schwingt sie sich mit dem Wagen in die ätherischen Lüfte auf. Dort trat sie vorwurfsvoll mit finster umwölktem Antlitz und offenem Haar vor Iuppiter hin und sprach: ‚Ich bin zu dir gekommen, Iuppiter, [515] als Bittflehende für mein und dein Fleisch und Blut. Findet die Mutter keine Gnade, so mag die Tochter den Vater rühren! Und kümmere dich, bitte, nicht deswegen weniger um sie, weil ich sie geboren habe! Endlich habe ich nun meine lang gesuchte Tochter gefunden, wenn du das ‘finden’ nennst, was treffender ‘verlieren’ heißt, [520] oder wenn du ‘wissen, wo sie ist’ schon ‘finden’ nennst. Daß sie geraubt worden ist, will ich hinnehmen, wenn er sie mir nur zurückgibt! Denn einen Räuber zum Gemahl verdient deine Tochter nicht – wenn sie schon nicht mehr meine Tochter ist.‘
Iuppiter versetzte: ‚Die Tochter ist eine Lust und eine