Im Wahn gefangen. Hans-Otto Thomashoff
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Читать онлайн книгу Im Wahn gefangen - Hans-Otto Thomashoff страница 11
»Aber die Farkic hat auf ihn aufgepasst wie ein Drache, Gift und Galle gespuckt, wenn eine von uns in seine Nähe gekommen ist. Er ist ja so ein guter … Mensch.«
Sie seufzte, und ihre Stimme hatte fast lasziv geklungen bei ihren letzten Worten. Sperling war mittlerweile vollkommen übersättigt, und verspürte auf einmal einen heftigen Druck auf seiner Blase. Angebunden, wie er war, konnte er weder aufstehen noch eine Harnflasche in Händen halten, ohne die Schwester um Hilfe bitten zu müssen, deren Erscheinung ihn keineswegs gleichgültig ließ. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Er konnte nicht länger warten. »Meinen Sie, Sie könnten mir vielleicht eine Hand freimachen?« Er wand sich unruhig in seinen Fesseln.
Sie schaute ihn mitleidig an, verstand aber nicht sein dringendes Bedürfnis. »Das geht leider nicht. Der Oberarzt hat ausdrücklich betont, dass Sie äußerst gefährlich sind, und wir haben strikte Anweisung, Sie in der Fixierung zu belassen.«
Sperling fand es absurd, dass man ausgerechnet ihm, der trotz seines Berufs Gewalt verabscheute, Gemeingefährlichkeit bescheinigte, aber das war ihm im Augenblick egal. »Ich …«
Er schluckte, aber es ging einfach nicht mehr. »Ich …, ich muss mal.«
»Dann hole ich Ihnen die Flasche.«
Sperling lächelte gequält. »Wenn Sie meinen.«
Sie ging kurz hinaus und kehrte gleich darauf mit einer Harnflasche zurück. Ohne jedes Zaudern begann sie dann unter seiner Bettdecke zu fingern, und er reagierte wie erwartet. Zu seiner Überraschung war ihm seine Erregung deutlich peinlicher als ihr.
»Na, der will etwas anderes«, bemerkte sie lapidar und setzte sich unsanft mit der Flasche durch, was zwar im ersten Moment schmerzhaft, gleich darauf aber erleichternd für ihn war. »Haben Sie eine Frau?«
Er fragte sich, warum sie das gerade jetzt von ihm wissen wollte. »Nein, ich habe einen Hund. Sie meinen doch im wirklichen Leben als Inspektor oder, was war es doch gleich, als Kartenverkäufer?«
Sie nickte gütig, als könne er ja nichts für seine Verwirrtheit. Es stand eindeutig fest, er war als verrückt gebrandmarkt, und niemand hier würde ihm die Wahrheit glauben.
»Noch einen Bissen?«
»Nein danke. Ich glaube, es reicht.«
»Dann bereite ich alles für Ihre Nachtruhe vor.«
»Bitte, eine Frage habe ich noch: Wozu dient eigentlich dieser Schlüssel, den ich um den Hals trage?«
»Das ist Ihr Spindschlüssel, für Ihren Schrank dort.«
»Aber den kann ich doch gar nicht benutzen.«
»Das wird schon, warten Sie nur ab.«
Sie brachte das Tablett hinaus und kam noch einmal zurück, um seine Flasche zu leeren und auszuspülen. Dann löschte sie das Licht und ließ ihn mit einem milde gehauchten »Gute Nacht« allein, das dem Raum einen Moment lang eine warme Note verlieh, die sich jedoch schon bald in der gespenstischen Stille der Dunkelheit verflüchtigte.
Da bin ich nun, dachte Sperling, bewegungslos wie ans Kreuz genagelt, nur halt flach, nicht aufrecht. Lag man so auf der Couch in einer Psychoanalyse?
Sperlings Rücken schmerzte vom Liegen auch ohne die Nebenwirkungen der Medikamente. Wie lange würde er das noch aushalten? Die aufgezwungene starre Körperhaltung führte ihm seine Hilflosigkeit unmittelbar vor Augen. Er konnte wieder denken, das hatte er sich ausgehandelt, doch das brachte ihn keinen Schritt weiter. Ob er bereits vermisst wurde – nur, von wem?
Marilyn hatte sich sicher in der Küche des Lokals unten im Haus eingenistet, wo sie Stammgast war. Da verließ er sich ganz auf ihren unerschütterlichen Instinkt.
Für die Kollegen aus dem Dezernat war er im Wochenende.
Und Chiara? Hatte sie am anderen Ende der Leitung vielleicht mitbekommen, was geschehen war? Er sehnte sich auf einmal nach ihr, und doch war etwas zerbrochen. Sie hatte das stillschweigende Einverständnis zwischen ihnen, trotz aller Freiheiten zusammenzugehören, aufgekündigt, sei es aus Unachtsamkeit oder aus was auch immer. Wollte sie wieder ein Kind haben? Hatte sie den Verlust ihres Sohnes endlich überwunden? Ihr Mann und ihr damals zweijähriger Sohn waren bei einem Autounfall tödlich verunglückt, und sie hatte seitdem jede feste Bindung gemieden. Doch wer war jetzt dieser andere? Sperling grämte sich, dass er es vielleicht nie erfahren würde. Die trockene Heizungsluft verursachte ihm einen Juckreiz an den unterschiedlichsten Stellen seiner Haut, die sämtlich außerhalb seiner Reichweite lagen. Wie human doch eine Gummizelle sein musste im Vergleich zu diesen starren Ledergurten, dachte er, biss die Zähne aufeinander und spannte seine Muskeln an, bis das Jucken endlich aufhörte. Seine Mutter war hier in der Psychiatrie gewesen, und er wunderte sich nicht, dass sie nie mehr zu sich selbst gefunden, sich schließlich das Leben genommen hatte. Er hatte sie besucht hier, hatte die Bilder von ihren letzten Begegnungen verdrängt, wusste nicht einmal mehr die Nummer des Pavillons, in dem sie gelegen hatte, erinnerte nur, dass sie alle gleich ausgesehen hatten, als er damals durch das parkartige Gelände zu ihr gegangen war. Und der Geruch der Station, der hatte sich ihm eingebrannt, den würde er niemals vergessen.
Was war mit Alice, ob auch sie entführt worden war? Die Erinnerung an ihre jugendliche Leichtigkeit entglitt ihm, erschien ihm immer unwirklicher, wie ein verlockender Traum, den die raue Wirklichkeit ausgelöscht hatte. Sein ganzes Leben war bei näherer Betrachtung eine Aneinanderreihung von Abschieden. Stück für Stück verlor er alles, was ihm lieb war. War es da das Schlechteste, wenn er selbst vor der Zeit die Bühne verließ? Er musste kämpfen, doch in diesem Augenblick wusste er nicht mehr wofür. Reglos lag er umhüllt von der schwarzen Nacht und fand keinen Schlaf.
9
Irgendwann musste er doch eingeschlummert sein, denn er schreckte aus einem merkwürdigen Traum auf, den er sofort wieder vergaß, als im grellen Schein der hoch hängenden Neonröhre ein auffallend breitschultriger Mann vor ihm stand, der sich als Pfleger Herrmann vorstellte und ihm das sonntägliche Frühstück ans Bett brachte. Während der Fütterung saß das Kraftpaket auf Sperlings Bettrand, und der empfand die körperliche Nähe als beengend, konnte ihr aber nicht ausweichen. Der Schweißgeruch des Pflegers war penetrant. Jeder Versuch, ihn in ein Gespräch zu verwickeln oder gar direkt irgendwelche Informationen aus ihm herauszubekommen, war vergeblich. Sperling fragte sich, ob dieser Koloss einer seiner Entführer sein mochte, und musterte ihn skeptisch. Selbst ein Lächeln war dem groben Gesicht nicht zu entlocken, allenfalls ein schnaufendes Grunzen, und so war Sperlings Appetit deutlich schneller gestillt als am Abend zuvor.
Das Licht brannte weiter, als Pfleger und Tablett den Raum verlassen hatten, und Sperling hatte die Gelegenheit, sich erneut in seiner Umgebung umzuschauen, musste aber zu seinem Bedauern feststellen, dass es nichts mehr zu entdecken gab, sah man von einem ausgedehnten Riss in der gegenüberliegenden Wand ab und von den Gittern vor dem Fenster, die ihm bisher nicht aufgefallen waren. Im kalten Neonlicht war das Warten kaum angenehmer als im Dunkeln. Nur gelegentlich drang ein meist undefinierbares Geräusch von der Station her zu ihm durch. Draußen brach zögerlich der Tag an, ohne dass es wirklich hell wurde.
Vor