Im Wahn gefangen. Hans-Otto Thomashoff
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Im Wahn gefangen - Hans-Otto Thomashoff страница 8
6
Aber es war kein Traum.
Als Sperling wieder zu sich kam, herrschte Dunkelheit, und er war allein, lag nicht mehr auf dem belebten Gang. Sein Bett stand jetzt an einem Fenster, und er vernahm das sachte knisternde Geräusch von Schneeflocken, die wie freudig vom Himmel herunter in ihren Tod zu springen schienen. Er hatte keine Ahnung, welche Uhrzeit es sein mochte, die Nächte waren lang zu dieser Jahreszeit, begannen schon am frühen Nachmittag. Seine Glieder waren lahm und schmerzten. Er versuchte, einen Arm zu heben, aber er war immer noch bewegungsunfähig verschnürt wie ein Paket, konnte sich nicht drehen und wenden und fand so auch kein Entkommen aus den blitzartig einschießenden Muskelkrämpfen, die ihn von Neuem ohne Vorwarnung überfielen. Er gab sich Mühe, sich zu konzentrieren, sich zumindest die Illusion eines Auswegs aufrechtzuerhalten, doch es gelang ihm nicht. Sein Hirn schien zu einer zähen Masse verbacken zu sein, seiner Kontrolle entzogen wie sein Körper. Er war von einer Gleichgültigkeit befallen, die er so an sich nicht kannte. Hatte er sich aufgegeben, oder war auch dies eine Folge der Medikamente, die sie ihm einflößten? Nicht einmal Wut empfinden konnte er. Über allem lag ein zehrender Mehltau. Nur Warten blieb ihm, die Zeit wie in einem Dämmerzustand zu durchstehen, im Niemandsland, irgendwo zwischen Existenz und Auslöschung. Seine Hand strich in dem kleinen Kreis, den seine Fessel zuließ, über das Laken, und er spürte, dass sein Bett frisch bezogen worden sein musste. Und eine Hose hatten sie ihm übergezogen. Er hatte nichts davon mitbekommen. Äußerlich war er beinahe wieder er selbst, lediglich seiner Freiheit und seiner Kraft zu denken beraubt.
Dort von oben, er hielt den Atem an, kam wieder Musik. Sie wurde lauter, war nun deutlich zu erkennen, wieder Wagner. In dem Raum über ihm spielte jemand die Walküre. »Niederspritzen und Dauerbeschallung mit Wagner«, dachte Sperling. »Leb wohl, du kühnes, herrliches Kind! Du meines Herzens heiligster Stolz! Leb wohl! Leb wohl! Leb wohl!« Das Finale der Walküre, Wotans schmerzlicher Abschied von Brünhilde, seiner Tochter, mit dem der Gott, gefangen im Konflikt zwischen scheiternder Pflichterfüllung und wahrem Gefühl, sein eigenes Ende besiegelte. Sperling lauschte dem Gesang, er war ihm ein Gruß der Zivilisation. Was für eine Aufnahme mochte das sein, rätselte er. Es war sonderbar, aber ja, er täuschte sich nicht, der Wotan wurde doppelt gesungen, wobei der begleitende Bariton ein klangvolles und eigenartig schönes Timbre hatte, aber offenbar kein perfektes Gehör. Voller Inbrunst sang er beharrlich an den Noten vorbei. So wohlklingend seine Stimme auch war, er scheiterte kläglich. Zum Zauber des Feuers drohte der zweifache Wotan mit der Spitze seines Speeres, und der Spuk war vorbei. Wieder war alles lautlos und schwarz.
Mit dem Verstummen der Musik schien ein letztes Band zur Welt draußen gerissen zu sein. Eine tiefe Melancholie überfiel Sperling. Die Einsamkeit wurde ihm unerträglich. Würde er eines Tages so sterben, im letzten Atemzug die Isolation vollenden, die ihm im Laufe seines Lebens immer schonungsloser zur Gewissheit geworden war? Vielleicht war der Zeitpunkt näher, als ihm lieb war. Er hatte nackte Angst. Langsam legte sich seine Müdigkeit, die Wirkung der Spritzen schien nachzulassen. Umso deutlicher nahm er jetzt seine ausgelieferte Lage wahr, für die er immer noch keine Erklärung hatte. Jeder Moment erschien ihm endlos, hatte weder Vergangenheit noch Zukunft. Er wartete, ohne zu wissen worauf. Hatte er wieder etwas gehört? Nein, es herrschte vollkommene Stille. Die Luft war stickig, stand vor staubig trockener Heizungshitze. Ihn fröstelte längst nicht mehr, er hatte Durst. Gerne wäre er eingeschlafen, hätte er Kräfte gesammelt, aber auch das gelang ihm nicht. Er konnte sich nicht in ein Schicksal fügen, das er gar nicht kannte.
7
Gleißend hell blendete ihn das Licht ohne Vorwarnung. Panik schnürte ihm den Hals zu. Nichts geschah, bis seine blinzelnden Augen erkennen konnten, dass jemand bei ihm war. Wortlos stand der andere da, musterte Sperling. Es war der einäugige Arzt. Wehrlos war Sperling dem überlegenen Schweigen des Psychiaters unterworfen, bis dieser endlich das Wort ergriff. »Sie sind also wach, das ist gut so.«
Als der Psychiater daraufhin aus der linken Tasche seines Kittels eine Spritzennadel hervorzog, ahnte Sperling, was nun auf ihn zukommen würde. Er wollte kurz rebellieren, gab aber gleich wieder auf, da er einsah, dass es keinen Sinn ergab. Vielleicht war es sogar besser, wieder zu schlafen, als die Dumpfheit der ausweglosen Situation zu ertragen. Wollten sie ihn erst in den Wahnsinn treiben oder direkt in den Tod? Der Arzt entfernte die Nadel aus ihrer Schutzumhüllung und entnahm seiner rechten Tasche eine Medikamentenkapsel, die er anstach, um sie dann Sperling vor die Lippen zu halten. »Nehmen Sie diese Kapsel, und behalten Sie die auslaufende Flüssigkeit einen Moment lang unter ihrer Zunge.«
Sperling blickte den Arzt ungläubig an, hielt wie im Reflex seine Lippen fest verschlossen.
»Das Mittel wird Ihnen guttun, vertrauen Sie mir. Es wird Sie von den Krämpfen befreien.«
Sperling war skeptisch, doch er hatte nichts mehr zu verlieren. Der Psychiater strahlte eine ruhige und kalte Autorität aus. Auf wessen Seite er stand, wusste Sperling nicht, doch er gab nach, verzog keine Miene, als sich unter dem scharfen Blick des Arztes der bittere Geschmack der Medizin in seinem Mund verteilte. Beide schwiegen. Sperling schloss die Augen, und das Medikament begann seine Wirkung zu entfalten. Seine Muskeln entspannten sich, er war erleichtert, beinahe euphorisch. Seine Kräfte kehrten zurück. Nur nutzen konnte er sie nicht. Er schlug die Augen wieder auf. »Danke.«
Sperling war vertraut mit dem Phänomen, dass Opfer sich ihrem Täter unterwarfen und sich ihm ergeben verbunden fühlten, und spürte, wie etwas Vergleichbares gerade mit ihm geschah. Er musste sich zusammenreißen, oder meinte der Einäugige es wirklich gut mit ihm?
Der Psychiater schien nicht überrascht. Er nahm sich den Stuhl, der neben Sperlings Bett stand, und setzte sich ruhig darauf. »Ich glaube, wir sind jetzt so weit, dass wir uns unterhalten können.«
Sperling nickte fragend, versuchte, den Rest der lähmenden Spritzenwirkung von sich zu schütteln, was ihm nur mäßig gelang. »Wer sind Sie?«
»Mein Name ist Vartan. Doch das tut nichts zur Sache. Sagen wir, ich bin ein Freund.«
Der Name stimmte, Sperling konnte ihn aufgenäht auf den Kittel des Arztes lesen: Dr. Vartan – Oberarzt.
»Ich nehme an, Sie wissen, warum Sie hier sind.«
Sperling schüttelte den Kopf. Selbst wenn es um Machenschaften irgendwelcher Pharmafirmen gehen sollte, hatte er keine Ahnung davon, was die gerade von ihm wollten.
»Uns fehlt nur eine Kleinigkeit, und ich bin sicher, dass wir sie von Ihnen bekommen werden. Ich baue ganz auf Ihre Mithilfe.« Ein höhnischer Unterton in den Worten Vartans stellte klar, wer auf wessen Hilfe dringender angewiesen war. »Als meine Mitarbeiter so freundlich waren, Sie zu diesem kleinen Ausflug in unser Spital zu motivieren, fanden sie auf dem Bildschirm Ihres Computers eine geöffnete Internetseite, die für uns von nicht unerheblicher Bedeutung ist. Ich hatte mittlerweile die Gelegenheit, mir diese Seite im Detail anzuschauen, und musste zu meinem Bedauern feststellen, dass dort Dinge behauptet werden, die so nicht stehen bleiben dürfen. Kurzum, wir benötigen das Passwort, mit dem wir die Seite überarbeiten können.«
Spöttisch ließ Vartan hierbei den Blick seines stahlblauen Auges über die Fesseln seines Opfers gleiten. »Es sind absurde Behauptungen, die dort aufgestellt werden, die in niemandes Interesse sind und nur vermeintliche Hoffnungen wecken, die dann schmerzlich enttäuscht werden. Verschaffen Sie uns den Zugang zu der Seite. Damit helfen Sie uns und vielen verzweifelten Menschen. Was ist schon so ein kleines Wort, nicht wahr?«
Das war es also, was sie von ihm wollten. Sperling wurde wacher,