Im Wahn gefangen. Hans-Otto Thomashoff
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Erleichtert und erschöpft von der Anspannung, in der er sich während des Schlagabtauschs mit seinem ungleichen Kontrahenten befunden hatte, sackte Sperling die wenigen Zentimeter zurück, die sein Bewegungsspielraum zuließ. Vartan hatte das Licht angelassen, und so konnte Sperling erstmals seinen eigenen Zustand und seine Umgebung genauer inspizieren. Um seine Hand- und Fußgelenke herum waren lederne Riemen geschnürt, die am Gestell des Bettes befestigt waren. Sie ohne das dazu notwendige Werkzeug zu lösen, war unmöglich. Er trug ein weißes Anstaltshemd und lag unter einer Decke, unter der seine nackten Füße hervorlugten. Außerdem hing um seinen Hals an einem Bindfaden ein Schlüssel, dessen Zweck ihm nicht einleuchtete, der aber offensichtlich nicht zum Lösen seiner Fesseln taugte.
Die Einrichtung des übermäßig hoch wirkenden Raumes war spartanisch. Direkt über ihm hing an der mit weißen Styroporplatten verkleideten Decke eine grell leuchtende Neonröhre. Die Wände waren cremeweiß getüncht. Ihm gegenüber standen ein karger Waschtisch ohne Spiegel, daneben ein schmaler Wandschrank aus Holz und der Stuhl, auf dem Vartan vorhin gesessen hatte. Schließlich gab es noch einen kleinen gelben Metalltisch direkt neben seinem Bett.
Wie sollte man in so einer Umgebung gesund werden, wenn man wirklich psychisch krank war, fragte Sperling sich. Sein Durst meldete sich wieder, ihm war, als habe er seit einer Ewigkeit nichts getrunken, und Hunger hatte er auch. Er fühlte sich elend und ausgemergelt, aber wenigstens sein Denken gewann die gewohnte Klarheit zurück.
Es klopfte kurz an der Tür, und ein blondes Geschöpf in einem zu engen weißen Kittel, das so gar nicht in dieses triste Umfeld passen wollte, betrat den Raum. »Guten Abend. Ich bin Schwester Hilde und bringe Ihnen das Abendessen.«
Sie hatte jedoch nichts bei sich außer ihren beiden ausladenden Brüsten. Sperling war irritiert.
»Was darf es denn heute für Sie sein? Es gibt Krautfleisch oder gefüllte Paprika.«
Die Normalität ihrer Frage traf Sperling unvorbereitet. Er starrte sie wortlos an, wurde dann seiner Hilflosigkeit gewahr. »Aber wie soll ich denn essen?«
»Ganz einfach, ich werde Sie füttern.«
Sie sagte das so, als sei es das selbstverständlichste der Welt. Nach kurzer Überlegung entschied er sich für das Krautfleisch. »Und bitte etwas zu trinken.«
»Hätten Sie lieber Hagebuttentee oder Pfefferminztee?«
Hagebuttentee erschien ihm in Verbindung mit dem Krautfleisch als das geringere Übel. Nach der Bemerkung, sie werde sofort zurück sein, verschwand die wundersame Erscheinung, und Sperling befürchtete fast, ihr kurzer Besuch könnte nur ein Wunschgebilde seiner Fantasie gewesen sein. Doch sie kehrte zurück mit einem Tablett in Händen, stellte es auf das Metalltischchen neben seinem Bett und hob die Plastikhaube vom Teller, auf dem dampfend und von eigentümlicher Farbe das abendliche Mahl lag. Ob es auf dieser Station nur Einzelzimmer gab, wie sonst war eine solche Speisenauswahl zu verantworten, kam es Sperling in den Sinn, als ihm der Krautgeruch in die Nase stieg.
»Bitte erst etwas zu trinken, ich verdurste.«
»Aber gern.«
Sie goss den Tee aus einer Thermoskanne in einen Plastikbecher, den sie ihm an den Mund hielt, und er trank ihn in einem Zug aus. Das heiße Getränk brannte in seiner Kehle, und die Wärme durchzog seinen ganzen Körper, doch sein Durst war von dem einen Becher nicht gelöscht.
»Bitte auch etwas Wasser.«
Auch das reichte sie ihm, und die kühle Erfrischung tat gut.
»Na, dann wollen wir mal, Inspektor.«
Sperling war überrascht. Wusste sie, wer er war, war sie beteiligt an dem üblen Spiel? »Sie nannten mich Inspektor?«
»Ach so, ja. Hier bei uns auf der Station bekommt jeder einen Spitznamen, der zu ihm passt. Sie sind der Herr Inspektor, und dann haben wir noch ein Orakel, einen Schauspieler, einen kleinen Nazi und viele andere mehr. Sie werden sich schon einleben bei uns, das ist bisher noch jedem gelungen. Und wenn Sie sich irgendwann in unserer Mitte richtig zu Hause fühlen, dann wollen Sie gar nicht mehr weg. Sie werden sehen.«
Während sie so plauderte, begann sie Sperling löffelweise mit dem Krautfleisch zu füttern, der sich dabei ertappte, wie er die Skurrilität seiner Lage bereits als beinahe normal erlebte.
»Und Therapie machen können Sie bei uns auch. Beschäftigungstherapie, Töpferkurs, oder wie wäre es mit der Trommelgruppe?«
»Ich hätte da eher an ein paar hundert Stunden Analyse gedacht.« Sperling hatte diesen Gedanken wirklich gehegt – die Liste seiner Neurosen war lang –, ihn jedoch wie alle echten Neurotiker ad infinitum vorerst verworfen.
»Ist ja ein Zufall. Ich habe früher in der Dialyse gearbeitet. Und eine feste Aufgabe mit Verantwortung bekommen Sie für den Stationsalltag zugeteilt, vielleicht das Amt des Fischefütterns?«
»Fische füttern?« Er hielt kurz inne, um zu kauen. »Ich kann doch gar nicht aufstehen. Da gehen die Fische sicher ein.«
»Ach, so etwas kommt vor. Aber das ist doch nicht so tragisch. Dann gibt es halt wieder ein paar neue.«
Sperlings erster Hunger war gestillt, doch er beschloss, die sich ihm bietende Gelegenheit zu nutzen, um mehr über Vartan in Erfahrung zu bringen, dabei aber nicht zu direkt vorzugehen. »Arbeiten Sie denn schon lange auf dieser Station?«
»Zwei Jahre sind es bald.«
»Und gefällt es Ihnen hier?«
»Ich glaube, ich möchte nie mehr etwas anderes machen. Es ist so wichtig, dass man in seinem Leben aufrichtig ist, Gutes tut und den Menschen hilft, diesen vielen armen Gestalten, die bei uns landen. Und was für Geschichten ich hier zu hören bekomme, da kann ich Ratschläge geben und werde wirklich gebraucht. Hier findet das richtige Leben statt in seiner ganzen Vielfalt. Außerdem ist die Zusammenarbeit in unserem Team ganz toll. Aber wieso erzähle ich Ihnen das eigentlich alles?«
Sie kicherte keck, und Sperling verlangte nach mehr Essen, um das Gespräch nicht abreißen zu lassen.
»Und der Oberarzt?«
»Doktor Vartan? Der ist die Seele unserer Station, jeder mag ihn. Er ist so gut zu den Patienten. Darin ist er uns ein lebendiges Vorbild. Es gibt sicher keinen zweiten Arzt wie ihn. Er ist beinahe wie ein Vater zu uns, hat immer ein offenes Ohr und bleibt sogar oft nachts und am Wochenende hier, nur damit er möglichst sofort zur Stelle ist, wenn er gebraucht wird. Sie haben bestimmt schon bemerkt, dass ihm ein Auge fehlt. Er soll es verloren haben, als er einem Patienten, der sich umbringen wollte, das Messer abgerungen und ihm so das Leben gerettet hat.«
Sperling war zwar satt, doch er aß brav weiter und weiter, verlangte einen Nachschlag, trank mehr von dem Tee und lauschte verwundert der seinem eigenen Eindruck so krass widersprechenden Schilderung des Arztes, die die Schwester ihm bereitwillig abgab.
»Und gestern hat er uns mitgeteilt, dass er bald eine Privatklinik eröffnen will, draußen im Hoffmann-Sanatorium in Purkersdorf, und unser ganzes Team hat daraufhin sofort einstimmig entschieden, dass wir alle mitkommen wollen, wenn es so weit ist.«
Sperling wurde hellhörig. Wenn Vartan so großzügig für seinen Einsatz an ihm entschädigt wurde, ging es bei seinen Auftraggebern erst recht um viel Geld. Alice hatte offenbar kein bisschen übertrieben. Nur hieß das für Sperling, dass