Im Wahn gefangen. Hans-Otto Thomashoff
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Keiner der Eintretenden hatte das dezente Rascheln ihrer Geschäftigkeit auch nur mit einem Wort zu durchbrechen gewagt. Sie bauten sich am Fußende von Sperlings Bett auf, und der ihm Unbekannte musterte ihn, ohne sich ihm vorzustellen, unhöflich lang, stumm über den Rand seiner halben Brille hinweg. Dann wandte er sich Vartan zu. »Das ist also der Neuzugang.«
»Ja, Herr Primar, ich berichtete Ihnen ja bereits, vorgestern gekommen.«
Der gestrenge Blick des Primararztes schweifte zu Sperling zurück, als erwarte er von diesem nun eine Erklärung. Sperling rätselte, ob der Zwerg auch an seiner Entführung beteiligt war, und überlegte unter dem Zeitdruck des arroganten Schweigens, das Macht gegen Unfreiheit auszuspielen schien, wie er am besten reagieren sollte. Er entschied sich, das Gespräch zu suchen. »Bitte entschuldigen Sie meine Aufmachung. Das ist sonst nicht meine Art.«
Der Primararzt zog die Augenbrauen hoch. »Der Patient ist ja auffallend guter Dinge.«
Wieder sprach er zu Vartan, als sei Sperling gar nicht anwesend, nicht ansprechbar oder unwürdig für einen Wortwechsel. Dann durchblätterte er interessiert die Krankenakte und fand anerkennende Worte für Vartan wegen der Medikamente, die er Sperling verabreicht hatte. »Wie ist denn nun der Stand der Dinge?«
Zu Sperlings Überraschung war diese Frage auf einmal doch an ihn gerichtet. Er hatte sich dazu entschieden, sich als gewöhnlicher Patient zu präsentieren. War der Primararzt nicht Teil des Komplotts, konnte Sperling ihn vielleicht überzeugen und freikommen. Da war es besser, wenn er nicht auf seiner wahren Identität beharrte, weil er sonst erst recht als verrückt erscheinen würde. War der Psychiater hingegen an den Machenschaften beteiligt, gab es für Sperling im Moment sowieso nichts zu verlieren. »Ich weiß gar nicht genau, was eigentlich passiert ist. Ich habe am Freitag ganz normal gearbeitet, im Kartenverkauf bei den Bundestheaterkassen. Es gab viel zu tun, jetzt vor Weihnachten und Silvester. Auf einmal hatte ich dann eine Art Eingebung, ich sei Inspektor und müsse in einem Fall ermitteln, und dann ist alles Weitere wie von selbst geschehen. Kaum zu glauben, nicht wahr?«
Der Primararzt lauschte mit unbeweglicher Miene. Wusste er wirklich nichts, und war Sperling auf dem richtigen Weg? Er schöpfte Hoffnung. »Hier liege ich gefesselt wie ein Verbrecher, und dabei hat sich der ganze Irrsinn inzwischen in Luft aufgelöst. Ich weiß wirklich nicht, wie es dazu kommen konnte. Ich hatte wohl zu viel Stress in den letzten Wochen. Die Vorstellung, mir oder irgendjemandem sonst etwas anzutun, erscheint mir vollkommen absurd.«
Genau so musste offenbar ein echter Geisteskranker reden, wenn er in die Freiheit zurückwollte, dachte Sperling, so geschickt wie möglich verbergen, was in Wahrheit in ihm vor sich ging. Auch ein Psychiater konnte schließlich immer nur das wissen, was man ihm erzählte.
Sperling richtete seinen Blick direkt auf die Halbbrille des Primararztes, schaute so harmlos wie möglich, flehentlich, unterwürfig, und fragte sich, wie gut seine Schauspielkunst wohl sein mochte. Es entstand eine beinahe unwirklich lange Pause, in der er der prüfenden Blickfixierung durch den Psychiater auswich und zu Boden sah. Die Schuhe des Arztes waren handgemacht von einem jener Schuhmacher, die die sogenannte Gesellschaft in Wien ausstatteten. Inzwischen gab es sogar Bildbände mit Anleitungen dafür, was man wo einkaufen musste, wollte man dazugehören. Stil wurde öffentlich, für jedermann zugänglich, prostituierte sich, verkam zu einer Frage des Geldes. Auch Vartan, der in Anwesenheit seines Vorgesetzten nur noch ein Schatten seiner selbst war, unterworfen unter die Macht des kleinen Mannes, hatte seinen Beruf verraten, sich für Geld verkauft. Befürchtete er jetzt aufzufliegen? Hatte Sperling ihn in der Hand? Er war versucht, von der Entführung zu berichten, aber er hielt sich zurück, denn wenn sein Wort gegen das des Oberarztes stand, würde er, der Patient, den Kürzeren ziehen. Er konnte vorerst nichts preisgeben, nur versuchen, freizukommen.
Unvermittelt brach der Primararzt in schallendes Gelächter aus. Vartan war erleichtert, aber Sperling begriff, was das zu bedeuten hatte. »Sie glauben wohl, Sie können mich zum Narren halten. Aber da müssen Sie früher aufstehen. Das werden Sie noch von mir lernen.«
Sperlings Hoffnungsfunken zerstob. Den ebenfalls anwesenden wortkargen Pfleger würde er kaum von etwas überzeugen und auf seine Seite ziehen können. Selbst wenn der nicht kriminell war, was Sperling mittlerweile unwahrscheinlich vorkam, wirkte er so einfältig und einsilbig, dass schon deshalb kein Verständnis von ihm zu erwarten wäre. Fieberhaft suchte Sperling nach einer Strategie. Mit dem Dezernat zu drohen, wäre sicher keine gute Idee, würde nur die ihm gewährte Schonzeit aufs Spiel setzen und wäre daher höchst riskant. Nur solange er diesen Psychiatern gänzlich ausgeliefert schien und sie das Codewort von ihm wollten, würden sie ihn am Leben lassen. »Sicher halten Sie sich für einen der größten Nervenärzte, und dabei sind Sie einer der kleinsten. In diesem Spital wird die Hierarchie wohl der Größe nach festgelegt, nur in umgekehrter Reihenfolge.«
Es war sonst nicht Sperlings Art, sich über unverschuldete Unzulänglichkeiten anderer lustig zu machen, aber sein unfairer Angriff löste einen Knoten der Anspannung in ihm. Für einen winzigen Augenblick hatte er die ihm aufgezwungene Machtlosigkeit symbolisch durchbrochen. Zwar kannte er die Achillesferse des Primararztes nicht, aber erfolgreiche Männer waren in der Regel dort empfindlich, wo sie zu wenig hatten. Ohne jede Vorwarnung prustete der Pfleger lauthals los. Sperling fühlte sich dadurch bestärkt. »Wo ist denn Ihre Zipfelmütze, die rote, und Ihr kleiner Spaten? Wahrscheinlich sind Sie nur deshalb Psychiater geworden, weil Sie es nicht geschafft haben, über den Rand des Operationstisches hinwegzuschielen.«
Sperling erkannte sich selbst nicht wieder, doch er fand es unglaublich befreiend, diesem Menschen, in dessen Händen sein Leben lag, alles an Beleidigungen an den Kopf zu werfen, was ihm nur in den Sinn kam, und damit seine Hilflosigkeit zu überspielen. Der Primararzt, dessen Namen er immer noch nicht kannte, lauschte mit ausdruckslosem Gesicht, schien von den verbalen Attacken Sperlings überhaupt nicht berührt zu werden. Dann, mit einem Ruck, drehte er sich auf dem Absatz um, stieß einen drohenden Fluch aus und verließ das Zimmer, gefolgt von dem beschwichtigend auf ihn einredenden Oberarzt.
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