Im Wahn gefangen. Hans-Otto Thomashoff

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Im Wahn gefangen - Hans-Otto Thomashoff

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nicht. Hatte man ihn entführt, und wieso war er jetzt unter Menschen und trotzdem nicht frei?

      »Sie können uns also nicht sagen, wo wir hier sind?« Die Frage kam von einem der drei Männer, der, auf Sperlings ratloses Kopfschütteln hin, bestätigend in die Runde nickte. »Sie sehen, er ist nicht orientiert.«

      Die beiden anderen traten näher an Sperling heran.

      »Ich bin Richter Donnerschlag, und dies ist der Patientenanwalt Herr Fröhlich. Können Sie uns bitte aus Ihrer Sicht schildern, was sich zugetragen hat?«

      Ein Richter, Sperling seufzte erleichtert, er war also in Sicherheit. Doch das Sprechen strengte ihn an. Seine Muskeln schmerzten, und aus irgendeinem Grund lief andauernd Speichel aus seinem Mund. Warum nur war er gefesselt? Mühsam rang er nach Worten. »Ich, ich bin Inspektor.« Er musste innehalten.

      »So, Inspektor sind Sie?« Derjenige, der sich als Richter vorgestellt hatte, schien amüsiert, glaubte ihm offensichtlich nicht. Mit gedämpfter Stimme, aber laut genug, dass Sperling es hörte, tuschelte er mit dem Patientenanwalt. »Was die Leute sich so ausdenken? Einen Inspektor haben wir noch nicht hier gehabt.«

      Beide nickten zustimmend.

      »Man … man hat mich entführt.« Sperlings Schädel dröhnte bei jeder Bewegung, die Artikulation jeder Silbe zog sich endlos hin, aber er musste berichten, was geschehen war.

      »Sicher waren Sie einer großen Sache auf der Spur?«

      Donnerschlag nahm ihn nicht ernst, der Unterton seiner Worte war spöttisch. Was wurde hier gespielt? Sperling begriff es nicht. Sein Denken und sein Sprechen waren gehemmt. Er musste unter Drogen stehen.

      »Nun, weshalb sind Sie hierhergekommen?« Sperling schwieg, und der Richter blätterte in einer Akte, überflog darin eine Seite. »Aus dem Polizeibericht geht hervor, dass Sie gestern Nachmittag eingewiesen worden sind, weil Sie auf der Wipplinger Straße halbnackt, mit einem Brotmesser bewaffnet, hinter einer jungen Frau hergelaufen sind und gedroht haben, sie zu erstechen. Als eine Streife Sie aufgehalten hat, haben Sie den Versuch unternommen, sich die Pulsadern aufzuschneiden, sich dabei eine Verletzung an der linken Hand zugefügt. Sie haben einen akut verwirrten Eindruck gemacht, haben zum Kampf für die Säuberung unseres Landes von ausländischen Elementen aufgerufen und wurden daraufhin direkt hierhergebracht. Übrigens haben Sie sich auch den Einsatzbeamten gegenüber als Inspektor ausgegeben.«

      Der Richter schmunzelte bei dem Gedanken daran, wie ein Halbnackter sich am helllichten Tag auf der Straße mit einem Messer in der Hand den Polizeibeamten gegenüber als Kollege vorgestellt hatte. »Und dabei sind Sie – hier steht es schwarz auf weiß – von Beruf Kartenverkäufer bei den Bundestheaterkassen.«

      Da endlich stieg eine dumpfe Ahnung in Sperling auf.

      »Und … und wo bin ich?«

      »Im Pavillon 10 des Gesundheitszentrums Nibelheim.«

      »Auf der Baumgartner Höhe, in guten Händen.« Dieser Kommentar kam von Fröhlich, dem Patientenanwalt, und war alles, was dieser beizusteuern hatte.

      So schwer Sperling das Konzentrieren weiterhin fiel, war ihm nun klar, dass man ihn an den Steinhof gebracht hatte, wie der Komplex im Volksmund weiter hieß, in den als Stadt am Rande der Stadt gebauten, riesigen psychiatrischen Klinikkomplex, dessen Namen man immer wieder änderte, um von den traurigen Wahrheiten abzulenken, die hinter seinen Mauern Wirklichkeit geworden waren. Sperlings Mutter war hier gewesen, früher, während ihrer Psychosen. Er hatte sie besucht. Daher hatte er den Geruch der Station wiedererkannt. Erst jetzt bemerkte er, dass er unter der Bettdecke nackt war und in Ermangelung einer Toilette ins Bett gemacht hatte. Sein Zustand war erbarmungswürdig. War er psychisch krank, so wie seine Mutter, die sich deshalb das Leben genommen hatte? Nein, das konnte, durfte nicht sein. Verzweifelt sträubte er sich dagegen. »Aber, was Sie da behaupten, stimmt doch gar nicht.«

      »Dann erzählen Sie uns doch bitte Ihre Version.«

      »Es muss sich um eine Verwechslung handeln.« Er unterbrach sich selbst, denn kaum, dass er den Satz begonnen hatte, begriff er. Alles, was er sagte und was nicht diesem merkwürdigen Polizeibericht entsprach, wurde zu einem Beweis für seine Verrücktheit.

      Der Richter bestätigte diese Vermutung sogleich. »Ja, ja, wir verstehen Sie schon.«

      »Aber mein Ausweis.«

      »Den haben wir hier in den Unterlagen sichergestellt.« Jetzt sprach der dritte Mann, der sich bisher noch nicht vorgestellt hatte. Sein weißer Kittel wies ihn als Arzt aus. Er war von mittlerer Größe, hatte streng nach hinten gekämmtes graues Haar und trug über dem rechten Auge eine schwarze Augenbinde. Mit seinem stahlblauen linken fixierte er Sperling stechend. Bei aller Kälte, die dieser Arzt ausstrahlte, war seine Stimme klangvoll und von eigenartiger Schönheit. Er entnahm der Krankenakte in seinen Händen einen Ausweis und reichte ihn dem Richter.

      »Wolfsohn, Victor Salomon Wolfsohn, bitte sehr, da ist er.«

      Auch wenn sie ihn bis an den Rand der Bewusstlosigkeit mit Medikamenten vollgepumpt hatten, war Sperling jetzt im Bilde über das, was hier vor sich ging. Nur den Grund dafür kannte er noch nicht. Das Ganze war kein Zufall, sondern ein abgekartetes Spiel. Er war in die Psychiatrie eingeliefert worden, wurde dort festgehalten, und sie würden ihn nicht gehen lassen. Die einzige denkbare Erklärung, die ihm in den Sinn kam, war ein Zusammenhang mit Alice. Ob auch sie verschleppt worden war? Aber was mochten sie von ihm wollen, und wer waren sie?

      Der Richter räusperte sich, schaute auf seine Uhr und meinte dann an die anderen gewandt: »Ich glaube, wir haben uns einen ausreichenden Eindruck verschaffen können. Herr Doktor, Sie haben uns ja freundlicherweise bereits im Vorhinein eine eingehende Erläuterung des Sachverhalts abgegeben, und die hat sich uns eindrucksvoll bestätigt. Wenn Sie uns nun bitte noch Ihre Einschätzung zu Protokoll geben würden.«

      Gründlich auf seinen Einsatz vorbereitet, antwortete der Einäugige im Stakkato. »Der Betroffene leidet an einer akuten schizophrenen Psychose mit ausgeprägt wahnhafter Verkennung der Realität, sowohl die eigene Identität als auch die Orientierung betreffend. Krankheitsbedingt ist er hochgradig eigen- ebenso wie fremdgefährdend, weswegen eine weitere Unterbringung des Betroffenen einschließlich freiheitsentziehender Maßnahmen für einen Zeitraum von zumindest einer Woche aus fachärztlicher Sicht dringend indiziert ist. Wie ich Ihnen ja bereits im Detail ausgeführt habe, erscheint ein Netzbett in seinem Fall unzureichend, weswegen wir uns notgedrungen für eine Fixierung in Gurten unter engmaschiger Überwachung entscheiden mussten.«

      »Herr Anwalt?«

      Dieser nickte und schwieg.

      »Also eine Woche, gemäß Paragraf 3 Unterbringungsgesetz, beschlossen und verkündet, Wien, den … und so weiter … Meine Herren, ich danke Ihnen.« Der Richter stellte sein Diktiergerät aus, stand auf und ging hinaus, gefolgt von dem Patientenanwalt, mit dem er eine entspannte Unterhaltung begann.

      »Warten Sie!« Sperling nahm seine ganze Kraft zusammen. Wenn er wegen Alice hier war, befand er sich in den Händen einer skrupellosen Pharmamafia. Dann war das jetzt möglicherweise seine letzte Chance. »Das ist ein Irrtum. Sie müssen mir helfen! Ich bin entführt worden!«

      Ungerührt schenkten ihm Richter und Patientenanwalt keinerlei Beachtung mehr, und der Oberarzt nickte der Frau kurz zu, die Sperling geweckt und der ganzen Verhandlung beigewohnt, aber kein Wort gesagt hatte. Sie hielt bereits eine aufgezogene Spritze in ihrer Hand und war gleich bei ihm.

      »Nein!«

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