Im Wahn gefangen. Hans-Otto Thomashoff

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Im Wahn gefangen - Hans-Otto Thomashoff

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hat mein Vater den entscheidenden Durchbruch in der Behandlung der Schizophrenie erzielt.« Wieder schaute sie sich nervös um. »Weltweit suchen alle großen Pharmakonzerne danach.«

      Ihn ging nichts an von dem, was sie sagte. Sein Hunger war längst verflogen. Der süßliche Blütenduft, ihr Anblick, die Bewegungen ihres Körpers, alles war losgelöst von ihrem Bericht, sprach eine eigene Sprache, die ihn in einen gemeinsamen Tanz mit ihr zu ziehen schien, in den er sich willig hineinfallen ließ.

      »Sie wollen seine Arbeit vernichten, haben bereits bei ihm zu Hause nach Unterlagen gesucht, ihm gedroht!«

      Ein Einbruch in Deutschland, das hatte wirklich nichts mit seinem Aufgabenbereich zu tun, bestätigte Sperling sich und lächelte doch verständnisvoll.

      »Wenn er nicht bereit ist, mit ihnen zu kooperieren, dann werden sie ihm etwas antun. Ich habe Angst um ihn!«

      Ihre Anziehungskraft auf Sperling wurde mit jedem Moment, den er ihr weiter lauschte und zusah, unwiderstehlicher. Marilyn lag immer noch ruhig an seiner Brust, und beiläufig begann er sie zärtlich zu streicheln.

      »Der Markt für Psychopharmaka ist ein Milliardengeschäft, das sich die Firmen sorgfältig untereinander aufgeteilt haben. Das sind Dimensionen, von denen man sich normalerweise keine Vorstellung macht. Nehmen Sie nur zum Beispiel Prozac®. Das wird in den USA so häufig verschrieben, dass es sich bereits im Trinkwasser angereichert hat und für die zunehmende Unfruchtbarkeit vor allem in den großen Städten mitverantwortlich gemacht wird.«

      Sperling hatte von all dem bislang nichts gehört, fragte sich, ob es schon bald mit Viagra® ähnliche Probleme geben würde – wenn auch mit anderen Konsequenzen.

      »Durch die Entdeckung meines Vaters werden alle existierenden Medikamente zur Schizophreniebehandlung mit einem Schlag überflüssig und erst recht die ganzen Mittel gegen deren Nebenwirkungen. Er ist in Gefahr, hält sich jetzt an einem geheimen Ort versteckt, um dort die letzten Ergebnisse zusammenzutragen und sie auf einer Internetseite zu veröffentlichen, damit sie für jeden zugänglich werden. Wenn ihm das gelingt, können sie ihm nichts mehr anhaben, weil sein Wissen sich dann blitzartig verbreiten wird und nicht mehr aus der Welt geschafft werden kann. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.«

      Ihre Geschichte, sofern sie denn stimmte, gewann an Konturen. Sie hatte immer noch nichts mit Sperling zu tun, doch etwas an der Art der Fremden übte eine unwiderstehliche Macht auf ihn aus, war das passende Gegenstück zu seiner komplexbehafteten Gehemmtheit. Sie hielt inne, blickte ihn fragend an, ob er sie verstanden habe, und er nickte. Ja, er fühlte, er würde sie verstehen.

      »Wir müssen vorsichtig sein. Ich denke, wir sollten besser nicht zusammen gesehen werden. Können wir irgendwohin verschwinden, wo wir ungestört sind?«

      Nichts wünschte er sich im Moment mehr, und gerade das irritierte ihn. Und doch, wenn ihre Augen auch nur eine Spur von dem hielten, was er in sie hineinzulesen versucht war … Er zögerte, blickte verstohlen zur Seite. Je stärker es ihn zu ihr hinzog, desto mehr gemahnte ihn eine innere Stimme zur Flucht. »Also ich weiß nicht, und eigentlich wollte ich etwas essen.«

      Sie lächelte ihn an, entwaffnend.

      »Ich kümmere mich darum. Bleiben Sie noch einen Moment hier, und gehen Sie dann zu dem Ausgang, der gleich hinter der Küche liegt. Ich werde Sie im Stiegenhaus wieder treffen.«

      Noch bevor er etwas entgegnen konnte, war sie verschwunden.

      Sollte er sie mit in sein Büro nehmen, schließlich handelte es sich ja um einen Fall? Möglicherweise jedenfalls. Er musste sich im Internet vergewissern. Gäbe es die Website, von der sie gesprochen hatte, wirklich, konnte etwas dran sein an ihrer Schilderung. Aber das ließe sich auch von Zuhause aus überprüfen, dazu musste er nicht aufs Dezernat. Sicher, er war Kriminalbeamter, aber bislang gab es keine offizielle Ermittlungssache, sondern eher so etwas wie eine persönliche Beratung außerhalb jeder beruflichen Zuständigkeit. Eine Biene setzte sich direkt vor seiner Nase auf eine der weißen Orchideenblüten, und Marilyn versuchte nach ihr zu schnappen – erfolglos. Ihm war heiß. War er im Begriff, sich zu verlieben? Es war ein Gefühl, das ihn kribbelnd packte, ihn mit sich riss wie ein rauschender Strom, dem er sich nicht entgegenzustemmen vermochte und auch nicht wollte. Hatte er dieses ewige Alleinsein nicht satt? Sie war ein Engel, vom Himmel gefallen, er kannte sie erst seit Minuten, wusste nicht einmal ihren Namen, und doch war sie wie ein offenes Buch für ihn. Oder redete er sich das alles nur ein, erlag er einer Illusion? War es nur der Reiz ihrer Jugend, weil er damit haderte, dass sein Alter mit ersten grauen Haaren sein Recht einforderte? Ratsuchend blickte er Marilyn an, die er immer noch eng an sich gepresst hielt, doch sie wusste ihm nicht zu helfen.

      Er beschloss, es einfach geschehen zu lassen, was auch immer es sein mochte, und begab sich, ihrer Anweisung folgend, ins Stiegenhaus, wartete dort an eine der Marmorsäulen gelehnt. Mit Chiara verband ihn viel. Hatte er nicht doch die ganzen Jahre über mit der versteckten Hoffnung gelebt, er könne sie eines Tages zum Bleiben bewegen, und war er damit nicht gescheitert, endgültig? Starr blickte er vor sich hin. Seine Liebessehnsucht war eindeutig im Moment stärker als sein analytisches Denken.

      Marilyn wurde unruhig, da legten sich ihm von hinten Hände auf die Augen. Sperling erschrak nicht, schmunzelte stattdessen. Das konnte nur die vertraute Fremde sein. Und sie war es auch.

      »Ich habe etwas Feines für uns«, hauchte sie ihm zu. »Austern.«

      Mochte er, zuckte es ihm durch den Kopf, sich am helllichten Tag mit Austern satt essen? Spielte sie damit subtil an auf die kommenden Stunden oder auf den Altersunterschied zwischen ihnen? Er lächelte zustimmend.

      »Sag, wo müssen wir hin? Wir sollten nicht zusammen gesehen werden, und da ist es besser, wenn ich vorausgehe und du mir dann einen Augenblick später nachkommst.«

      Sein Lächeln hielt sich, und er nickte wortlos.

      »Nun?«

      »Ach so, ja. Schottengasse.«

      Der Koch musste sie gut kennen, Austern, dachte Sperling.

      »Ja, und wo in der Schottengasse?«

      »Nummer drei, Melkerhof. Im hinteren Hof. Das Haustor steht offen. Sie … man kann drinnen im Hof warten.«

      »Gut.«

      Schon sprang sie davon, wandte sich an der Tür nach draußen noch einmal kurz ihm zu, um zu signalisieren, dass die Luft rein war, und war schon entschwunden.

      Das »Du« war ihr ganz selbstverständlich über die Lippen gekommen. Sollte er lange warten? Nein, entschied er sich und war schon hinter ihr her. Sollte ihr etwas zustoßen, wäre er so zumindest rechtzeitig zur Stelle. Beim Verlassen des Börsegebäudes wurde er wieder von der Sonne geblendet, doch es hätte auch schneien können und ihm wäre warm gewesen. Er sah gerade noch, wie sie, oben an der Metallstiege angekommen, auf die Straße trat. Hastig erklomm er selbst die Stiege und folgte ihr dann mehr oder weniger unauffällig auf ihrem Weg durch die Innenstadt, ein Stück weit hinter ihm sein Hund, der sich nur widerwillig damit abfand, jetzt nicht getragen zu werden, sondern selbst laufen zu müssen.

      Sperling behielt die vorauseilende Schöne die ganze Zeit über fest im Auge, verfolgte jede Bewegung der bezaubernden Fremden und malte sich aus, wie sie sich lieben würden, denn dass sie sich lieben würden, davon war er überzeugt.

      Streifige Wolken kündigten einen Wetterwechsel an, doch das tangierte ihn nicht. Ein wenig außer Atem erreichte er den Melkerhof, wo sie bereits auf ihn wartete.

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