Im Wahn gefangen. Hans-Otto Thomashoff
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Sie gingen die Stiege hinauf. An seiner Wohnungstür angekommen, schloss er auf.
»Ich bin …, ich heiße …, ja, Benedict.« Er bat sie hinein und nahm ihr den Mantel ab, hängte ihn an die Garderobe, dann den seinen gleich daneben. »Einfach geradeaus, da ist mein … Arbeitszimmer, mein Computer.«
Die Wegbeschreibung zu seinem Arbeitszimmer galt weniger ihr als ihm selbst als Bekräftigung für seine hehren Absichten. Er wollte wissen, woran er bei ihr war, bekräftigte er sich. »Damit kannst du ins Internet und mir dann alles zeigen. In der Zwischenzeit werde ich mich um das Essen kümmern. Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?«
»Ja, bitte ein Wasser.«
»Oder etwas anderes?«
»Nein, ist schon fein. Ich trinke immer nur Wasser.«
Das Wiener Wasser war zwar berühmt für seine besondere Qualität, aber zu Fines de Claires? Sperling war nach Gehaltvollerem zumute. Alice nahm vor dem Computerbildschirm auf seinem Arbeitssessel Platz. Er musste sich über sie beugen, um das Gerät einzuschalten, wobei seine Wange flüchtig ihr Haar streifte, dessen Duft ihn betörte. Er fühlte sich erinnert an Maiglöckchen im Frühling. Sperling öffnete den Browser und zog sich dann mit der Tasche, in der die Austern auf ihn warteten, in die Küche zurück. Er breitete die Schalentiere vor sich auf der Anrichte aus – zwei Dutzend waren es – und stand nun vor dem Problem, sie zu öffnen. Ein Austernmesser besaß er nicht. Er überlegte, kramte suchend durch Küchenschubladen und -schränke.
»Klappt bei dir alles?«
»Ja, ich bin auf der Website. Willst du sie sehen?«
»Gleich, ja.«
»Dann sende ich eben noch eine Nachricht an meinen Vater.«
»Ja, ja, mach das.«
Ein schweres Brotmesser, ein Schraubenzieher, ein Hammer und ein Korkenzieher waren alles, was er als mögliche Hilfsmittel auftreiben konnte. Wie die edlen Meeresgeschöpfe so verschlossen und lebend vor ihm lagen, fiel es ihm schwer, sich zu entscheiden, welche zuerst dran glauben sollte. Wahllos griff er schließlich eine der Austern heraus, hielt sie hochkant und bemühte sich, das Messer von oben in sie hineinzurammen. Sein Angriff schlug fehl, er glitt ab, aber noch hatte er alle Finger, tröstete er sich und schüttelte den Kopf darüber, was er alles zu tun bereit war. Machte allein die vage Aussicht auf Sex ihn als Mann unweigerlich zum Trottel?
Während der Korkenzieher kaum einen Versuch wert war, versprach die Kombination von Schraubenzieher und Hammer mehr Erfolg. Doch wieder rutschte er ab, fluchte leise, aber bestimmt.
»Bist du okay?«
»Ja, ja, ich bin gleich so weit.«
Verzweifelt blickte er sich um. Sollte er sie lieber zum Essen einladen, unten in das Restaurant, den Melker Stiftskeller? Doch sie würde das sicher nicht wollen, hatte Angst, verfolgt zu werden. Das mochte ein Hirngespinst sein. Aber auch seine Absichten ließen sich nicht mit einem Restaurantbesuch vereinbaren. So griff er noch einmal zu Schraubenzieher und Hammer, schlug beherzt zu und rammte sich den Schraubenzieher in die Innenseite seiner Hand, die daraufhin heftig zu bluten begann.
»Verflucht«, zischte er durch die Zähne, wickelte sich ein Geschirrtuch um die Wunde und rannte in sein Badezimmer. Alice hatte offenbar von seinem Missgeschick nichts mitbekommen und rief ihn zu sich.
»Gleich, gleich«, wiegelte er ab.
Unter fließend kaltem Wasser ließ der Schmerz ein wenig nach. Die Salbe, die er anschließend auf den tiefen Riss in seiner Haut auftrug, brannte, obgleich auf der Packung stand, sie fördere die Heilung. Mit einem frischen Handtuch um seine Verletzung gebunden, wollte er sogleich zurück in die Küche, doch er hielt inne, um sich noch kurz seinen Mund mit einem frischen Mundwasser auszuspülen. Als er an ihr vorbeiging, fing Alice ihn ab, streckte ihren Arm nach ihm aus, ohne ihren Blick vom Bildschirm abzuwenden.
»Schau einmal kurz. Das ist die Website meines Vaters. Dass er sie ›Rheingold‹ genannt hat, ist eine Anspielung auf die Bedeutung seiner Entdeckung, und außerdem liebt er Wagner. Hier kannst du sehen, wovon ich dir erzählt habe. Komm, setz dich.«
Sie machte den Platz auf dem Stuhl frei, er setzte sich und sie glitt ganz selbstverständlich auf seinen Schoß.
»Schau, hier in dem Überblick steht alles genau erklärt.«
Sperling – glücklich, einstweilen den Hartschalentieren entkommen und in körperlicher Nähe zu Alice zu sein – überflog die Zeilen, in denen vor dem Hintergrund eines stilisierten Eiweißmoleküls erläutert wurde, dass Professor H. J. Lapinsky der entscheidende Durchbruch im Kampf gegen Schizophrenie gelungen sei. Anders als bislang angenommen, sei nicht ein einzelnes Gen für die Erkrankung verantwortlich, sondern die Erkrankung entstehe aus dem Wechselspiel zwischen Umwelteinflüssen und ganz unterschiedlichen Genen. Jeder der verschiedenen Entstehungswege münde allerdings in eine einzige spezifisch veränderte hyperaktive Variante eines Transportproteins im Bereich der Nervenendigungen bestimmter Hirnzentren, vor allem im sogenannten limbischen System. Nicht mittels gentechnischer Maßnahmen, sondern durch eine irreversible Blockade des für die Proteinumwandlung verantwortlichen Enzyms sei damit eine dauerhafte und wirksame Heilung von Schizophrenie möglich, einfach, kostengünstig und zudem gänzlich nebenwirkungsfrei, da das betreffende Enzym im ganzen Körper nur diesen einen chemischen Prozess steuere. Zu den wissenschaftlichen Einzelheiten wurde auf eine andere Website verwiesen, die zurzeit noch in Arbeit sei, deren Inhalt aber in Kürze in der Zeitschrift »Science« veröffentlicht werde. Es folgte ein dringender Aufruf zur Verbreitung dieser revolutionären Entdeckung, da Teile der Pharmaindustrie mit aller Macht versuchten, sie zu sabotieren, um den milliardenschweren Psychopharmakamarkt zu schützen. Denen sei offenbar jedes Mittel recht. Eine enge Mitarbeiterin des Professors sei bereits spurlos verschwunden, und er selbst habe sich daher an einen geheimen Ort zurückgezogen, um dort den angekündigten Artikel zu schreiben und sich bis zu dessen Erscheinen versteckt zu halten.
Alles stand genau so dort, wie Alice es gesagt hatte. Sperling wandte sich ihr zu.
»Glaubst du mir jetzt?«
Ihre Lippen glänzten, standen halb geöffnet. Ein Knopf ihrer Bluse hatte sich gelöst, gab den Blick frei auf ihren Busen, und Sperling näherte sich ihrem Mund, berührte ihn zärtlich. Sie schloss die Augen, gab sich seinem Kuss hin. Nach einer Weile hielten sie inne.
»Ich hatte dich eigentlich älter eingeschätzt nach unserem Telefonat, hatte dich für so einen grauen, pragmatisierten Beamten gehalten, der sich den ganzen Tag über grantig hinter seinem Schreibtisch verbarrikadiert und froh ist, wenn er in Ruhe gelassen wird.«
Sperling schmunzelte geschmeichelt, und sie küssten sich wieder, leidenschaftlicher. Ihre Unbekümmertheit ließ sie auf eine Weise frei sein, wie es ihm nie möglich gewesen war. Sie glitten hinab auf den Teppich, und er begann sie auszuziehen, strich dabei sanft über ihre Haut, was sie mit einem wohlig entspannten Stöhnen beantwortete, das ihn vollends dazu brachte, an nichts anderes mehr zu denken als an sie, wie sie hier halb neben, halb unter ihm lag, eine Erfüllung verborgener Träume hineingeworfen in seinen tristen Alltag.
»Das ist eigentlich gar nicht meine Art.« Mit diesen Worten öffnete sie den Reißverschluss seiner Hose, und wenig später liebten sie sich, elektrisiert vom Reiz des Neuen. Das Klingeln des Telefons, das auf dem Arbeitstisch neben ihnen stand, war bedeutungslos. Sie befanden sich außerhalb banaler Realitäten.
»Benedetto,