Tödliche Klamm. Mia C. Brunner
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Er musste diesen Beweis zerstören. Das Wasser aus der Pfütze würde dafür nicht ausreichen. Die Tatsache, dass niemand die Daten auf dem kleinen Bahnticket, das er vor ein paar Tagen in Oberstdorf aus dem Automaten gezogen hatte, auf ihn zurückführen können würde, da ja kein Name oder keine Adresse vermerkt war, beruhigte ihn keineswegs. Er musste das Ticket zerstören.
Es war unmöglich, das feuchte Papier anzuzünden, musste er feststellen, als er die Flamme seines Feuerzeugs an den Zettel hielt. Doch er bemerkte zufrieden, dass die Hitze des Feuers die Thermoschicht des Zettelchens pechschwarz färbte und die Zahlen unleserlich machte. Als sich zudem die Worte »Kempten (Allgäu) Hauptbahnhof« in schwarzes Wohlgefallen aufgelöst hatten, lächelte er zufrieden, auch weil die Schmerzen in seiner Brust langsam nachließen. Er legte das wertlose Ticket vorsichtig zurück in die Pfütze und schob das Feuerzeug in seine Hosentasche.
Ja, ein Problem war gelöst.
»Bin wieder da«, rief Jessica, warf ihren Haustürschlüssel achtlos auf die Anrichte im kleinen Flur und drückte mit ihrem Hintern die Wohnungstür zu. »Ich habe Essen mitgebracht! Hallo, Rico!«
Der junge Ecuadorianer, der aus ihrer Küche geeilt war und jetzt direkt vor ihr stand und sie anstrahlte, hob grüßend die Hand. »Holla, Frau Grothe«, sagte er und es klang etwas gepresst, doch sein stetes Lächeln überspielte seine Unsicherheit. Trotz des eisigen Wetters draußen trug er in der Wohnung ständig nur knielange Hosen und kurzärmelige Hemden und wirkte durch seinen leicht dunklen Teint, als wäre er gerade frisch aus dem Urlaub gekommen. Und so war es vermutlich auch. Gab es in Ecuador überhaupt Winter, Schnee und Kälte?
»Sag doch bitte Jessica zu mir, Rico«, schlug sie zum wiederholten Mal vor und bemühte sich, ebenfalls freundlich zu lächeln. Doch der vergebliche Versuch, ohne Zuhilfenahme ihrer Hände aus ihren nassen Stiefeln zu steigen, ließ sie genervt das Gesicht verziehen. »Mistdinger!«, fluchte sie, lehnte sich gegen die Wand, beugte sich hinunter und zog mit beiden Händen an dem rechten Stiefel, der nur langsam, als hätte er sich an ihrem Bein festgesaugt, von ihrem Fuß glitt. »Verdammter Mistschuh«, zischte sie durch die fest zusammengebissenen Zähne, schaute auf und sah in drei grinsende Gesichter.
»Was gibt’s denn zu essen, Jessy?«, fragte Svenja, und Tobi griff bereits nach den zwei Plastiktüten, die Jessica neben der Anrichte abgestellt hatte und die herrlich nach Currywurst und Pommes dufteten.
»Oh, be careful, Tobi«, rief Rico entsetzt, als eine der Tüten geräuschvoll gegen die Wand klatschte, besann sich dann aber darauf, dass er nach Kempten gekommen war, um besser Deutsch zu lernen, nahm Tobi das Essen ab und sagte ermahnend: »Du mussen aufpassen gut.«
»Du musst gut aufpassen«, belehrte ihn Svenja, nahm Tobi an die Hand und lief zurück in die Küche.
Die Entscheidung, ein Au-pair für die beiden Kinder zu besorgen, um wieder ganztags arbeiten zu können, war Jessica zuerst schwergefallen. Und auch der durchaus sympathische ecuadorianische Deutschstudent Ricardo Hernandez war nicht ihre erste Wahl gewesen. Jessica hätte durchaus lieber ein junges Mädchen als Aufpasserin für die achtjährige Svenja und ihren drei Jahre jüngeren Bruder Tobias gehabt, doch Rico stellte sich als überaus kompetent und freundlich heraus und fand sofort einen Zugang zu Tobi und Svenja. Er war jetzt seit zwei Wochen bei ihnen und hatte den Haushalt und die Kinder bereits besser im Griff, als Jessica es je gehabt hatte. Und er kam gut an bei den Nachbarn, besonders bei den weiblichen. Das lag mit Sicherheit auch an seinem blendenden Aussehen, doch vor allem die älteren Damen, die in diesem Mehrfamilienhaus wohnten, schätzten seine überschwängliche Höflichkeit, seine Hilfsbereitschaft und sein humorvolles Wesen. Er hatte die sonst so zurückhaltende, etwas grantige und misstrauische Allgäuer Frauenwelt hier im Haus im Sturm erobert. Bei den Männern war das anders. Den Allgäuer Männern hielt er einen Spiegel vor, in dem sie sich selbst nicht wiedererkannten und sich äußerst bedroht fühlten. Doch Rico quittierte jede versteckte Beleidigung oder unangebrachte Bemerkung mit einem freundlichen Lächeln.
»Du musst gut aufpassen«, wiederholte er jetzt Svenjas Worte und lachte so schallend, dass Jessica ebenfalls bessere Laune bekam, sich auch von ihrem zweiten Schuh befreite und das Paar achtlos in die Ecke warf.
»Hast du alle Mörder gefasst und eingesperrt, Jessica?«, fragte Rico grinsend. Seit drei Tagen, seit Jessica ihren Job im Kemptener Präsidium angetreten hatte, stellte er ihr diese Frage immer, wenn sie die Wohnung zu Feierabend betrat.
»Ausnahmslos alle«, gab Jessica dann immer augenzwinkernd Auskunft. »Wir werden heute also gut schlafen können.«
Es schneite so heftig, dass der Scheibenwischer an Hauptkommissar Forsters Dienstwagen auf Hochtouren lief und trotzdem kaum die Windschutzscheibe freihalten konnte. Beinahe hätte er den Abbieger verpasst, weil er die abzweigende Straße durch das Schneegestöber nicht gesehen hatte.
»Kreuzkruzifix«, fluchte er und riss das Lenkrad herum, als der Wagen nach der Kurve dem Graben neben der Straße gefährlich nah kam. Die Hinterräder des Autos schlitterten über den mit Schnee bedeckten Asphalt. Doch Florian hatte das Fahrzeug schnell wieder im Griff, drosselte jetzt aber vorsorglich das Tempo. Mit gerade einmal 15 Stundenkilometer lenkte er den Wagen durch den Schneesturm und starrte dabei angestrengt auf die Straße vor sich.
»Welcher depperte Siach geht bei so einem Wetter bloß wandern? Wahrscheinlich irgend so ein Flachlandtourist«, schimpfte er ärgerlich, doch von seinem Kollegen Willig auf dem Beifahrersitz kam keine Reaktion. Berthold hielt sich krampfhaft am Innengriff der Beifahrertür fest und hatte die Augen weit aufgerissen, als würde er Achterbahn fahren und direkt auf einen dreifachen Looping zurasen. Welchen depperten Wanderer sein Chef meinte, konnte Berthold eh nur spekulieren. Er vermutete, Forster sprach von dem Herrn, der die Polizei gerufen hatte, weil er auf seiner morgendlichen Tour durch die Breitachklamm eine Leiche gefunden hatte, und nicht von der Leiche selbst. Das wäre immerhin etwas pietätlos gewesen.
Nach mehreren Wochen Tauwetter und Temperaturen über zehn Grad hatte der Winter sich heute Mittag mit Unwetter und bis zum Nachmittag mit fast 40 Zentimetern Neuschnee zurückgemeldet. Die Schneeräumfahrzeuge kamen kaum hinterher, wenigstens die Hauptverkehrsstraßen einigermaßen frei zu halten, der große Parkplatz vor dem Eingang der Breitachklamm war ein einziges weißes Meer aus Schnee. Jetzt gab Hauptkommissar Forster noch einmal Gas und pflügte den Streifenwagen durch den Schnee. Er wollte so nah wie möglich an das kleine Tickethäuschen kommen und hoffte inständig, dass er sich gut genug erinnern konnte, wo ungefähr die Holzpfosten standen, die die Bereiche des Parkplatzes abgrenzten und in Parzellen einteilten.
Er war vor über zwei Jahren das letzte Mal hier gewesen. Im Sommer.
Direkt hinter ihm fuhr Erwin Buchmann, der Gerichtsmediziner, zusammen mit seiner Kollegin in einem weißen Transporter. Er nutzte die kurzzeitig entstandene Fahrrinne von Florians Wagen. Ohne sie wäre er vermutlich schon am Anfang des Parkplatzes mit dem schweren Fahrzeug im Schnee stecken geblieben.
Hauptkommissar Forster hielt direkt vor dem Eingang zur Klamm und wollte gerade aussteigen, als sein Dienstwagen einen kleinen Satz nach vorne machte und dann langsam gegen einen dieser Pfosten rutschte, die nur noch wenige Zentimeter aus dem Schnee herausschauten. Als der Transporter die hintere Stoßstange des Dienstwagens zusammendrückte, die ächzend ein metallisch knirschendes Geräusch von sich gab, war Florian bereits aus dem Wagen gesprungen und versank augenblicklich bis zum Knie im Schnee.
Er schloss die Augen, atmete einmal tief durch und wartete mehrere Sekunden, bis er sich schließlich umdrehte, Jacke und Mütze vom Rücksitz holte, sich seinen Schal dreimal um den Hals wickelte und in die Daunenjacke schlüpfte.
»Sag mal, wo hast du eigentlich fahren gelernt, du Zipfel?«, fuhr er schließlich