Schattenklamm. Mia C. Brunner
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So richtig viel Beziehungserfahrung hatte Jessica sowieso nicht vorzuweisen. Ihre einzig länger dauernde Beziehung war die mit Kai gewesen, Student der Wirtschaftswissenschaften, groß, schlaksig und unsportlich. Über drei Jahre teilten sie die Wohnung und das Bett und alles schien in Ordnung zu sein, bis Kai schließlich urplötzlich eines Abends beschloss, seine Koffer zu packen und sie zu verlassen. Jessica wusste bis heute nicht, was sie damals falsch gemacht hatte. Für sie war Kai die große Liebe gewesen, der Mann, den sie heiraten und mit dem sie eine Familie gründen wollte. Sie hatten sich eigentlich immer gut verstanden, die wenige Freizeit, die sie aus beruflichen Gründen hatten, immer miteinander verbracht und sich stets aufeinander verlassen können. Und dann plötzlich zog er aus.
Kai hatte sich danach nie wieder gemeldet.
Nach diesem Desaster waren Jessicas folgende Beziehungen kaum der Rede wert gewesen. Mit ein paar wenigen Männern hatte sie es probiert, doch keiner hatte sie mehr als ein paar Wochen interessiert. Leider gehörte Jessica zu den Frauen, die sehr wählerisch waren und Fehler, eigene genau wie die anderer, nur schwer akzeptieren konnten.
Kapitel 6
Tief in Gedanken versunken schlenderte Hauptkommissar Forster über die Hamburger Reeperbahn. Am Tage war die Amüsiermeile von Hamburg unspektakulär und ein wenig schmuddelig, doch nachts erwachte sie zum Leben. Die bunten Lichter, die Kneipen, die zum Bleiben einluden, und natürlich die Stripbars, die mit nackten Frauen und purem Vergnügen warben, faszinierten den Allgäuer Beamten, der sich hier vorkam, als wäre er in Kempten ein kleiner Dorfpolizist ohne Herausforderung. Die Kommissare und Streifenpolizisten hatten hier monatlich sicher mit wesentlich mehr Verbrechen und Abgründen menschlichen Versagens zu tun, als er in seiner gesamten Polizeilaufbahn je haben würde.
Seit zwei Tagen war Hauptkommissar Forster bereits in Hamburg, hatte versucht, sich selbst ein Bild zu machen über diesen mysteriösen Mordfall an dem Polizeibeamten im Dezember letzten Jahres. Irgendwie hatte er das Gefühl, dieser Mord hätte etwas mit seinem aktuellen Fall zu tun, doch er kam nicht dahinter, welches Indiz ihn auf diese Idee brachte. Natürlich gab es da die Verbindung durch die gespeicherte Nummer im Handy des Kemptener Opfers. Florian Forster glaubte nicht an Zufälle und war sich sicher, dass mehr hinter dieser Nummer steckte, als die Beteiligten zugaben. Er vermutete irgendeine Beziehung zwischen den beiden Opfern. Da sowohl Susanne Reuter als auch Jessica Grothe glaubhaft versichert hatten, sie würden das Baumarktopfer Klaus Vollmer nicht kennen, musste die gespeicherte Telefonnummer in Verbindung zu dem Hamburger Opfer Wolfgang Reuter stehen, der als Einziger ebenfalls unter dieser Telefonnummer gemeldet gewesen war. Doch weder bei dem Polizeibeamten noch bei dem Baumarktmitarbeiter wies irgendetwas auf Korruption oder andere kriminelle Machenschaften hin. Beide Opfer hatten Familie, keine Eheprobleme, ein geregeltes Leben und schienen glücklich zu sein. Die beiden Opfer lebten schon immer beinahe 800 Kilometer voneinander entfernt und hatten nach Angaben der Freunde und Verwandten auch nie ihren Urlaub in der jeweils anderen Region verbracht, konnten sich also nicht begegnet sein. Und doch wurmte den Allgäuer Hauptkommissar etwas, das er nicht zu definieren vermochte. Auf der anderen Seite der mehrspurigen Straße sah er die hell erleuchteten Reklameschilder des Burger King und ihm gegenüber die Davidwache. Er hatte darum gebeten, sich den Tatort ansehen zu dürfen. Der leitende Kommissar Wächter war nicht begeistert gewesen, doch hatte er schließlich zugestimmt. Niemand ließ sich gern in die laufenden Ermittlungen blicken, das wusste Florian Forster nur zu gut.
Minuten später betrat er die Wache und stellte sich vor. Der diensthabende Polizist hinter dem Tresen verwies ihn freundlich an seinen Kollegen, der verärgert, ja beinahe zornig aus seinem Büro kam und Hauptkommissar Forster nur aus Höflichkeit die Hand zur Begrüßung entgegenstreckte. Florian wusste, dass er hier nicht willkommen war.
»Guten Tag, Herr Hauptkommissar«, wurde er mürrisch begrüßt. »Sie wurden uns schon angekündigt. Wollen Sie gleich mitkommen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, stapfte der Polizeibeamte mit weit ausholenden Schritten durch den langen Gang in den hinteren Teil des Gebäudes. Scheinbar schien er diese leidige Angelegenheit so schnell wie nur möglich hinter sich bringen zu wollen.
»Was verschlägt Sie hier nach Hamburg, Herr Hauptkommissar?«, brummte der Beamte vor ihm, in dem Versuch, höfliche Konversation zu halten. »Sie hätten sich die Unterlagen zu diesem Fall schließlich auch faxen lassen können.« Letzteres klang mit voller Absicht vorwurfsvoll.
»Die Unterlagen hatte ich bereits in Kempten gesichtet, doch ich mache mir gern selbst ein Bild«, gab der Kommissar ruhig und sachlich zur Antwort.
Der Hamburger Beamte blieb vor einer Tür stehen, stieß diese mit einer Hand auf und deutete Florian an, einzutreten.
»Das ist der Umkleideraum«, erklärte er dem Hauptkommissar. »Dort hinten ist das Bad mit den Toiletten und Duschen. Dort ist der Mord passiert.« Als der Polizist dem Kommissar in den gefliesten Raum nicht folgte, drehte sich Florian Forster zur Tür um und sah, dass der Beamte wortlos und beinahe angsterfüllt an die hintere Wand starrte und nicht bereit war, einen weiteren Schritt zu gehen. Florian wusste sofort, dass dort die Leiche gelegen haben musste.
»Es ist immer schrecklich, einen Kollegen zu verlieren«, versuchte der Kommissar den jungen Beamten zu beruhigen. »Mir selbst ist das noch nie passiert, dem Himmel sei Dank«, gab er zu.
»Ich habe ihn gefunden«, flüsterte der Hamburger Beamte kaum hörbar. »Und er war mehr als ein Arbeitskollege für mich. Er war mein bester Freund.«
Den Abend verbrachte Florian mit Martin Hansen in einer kleinen, recht stilvollen Kneipe ganz in der Nähe der Polizeiwache. Er war froh, dass er den Kollegen überreden konnte, auf ein Bier mit ihm mitzukommen, einerseits, weil er so den Abend nicht einsam in seinem Hotelzimmer verbringen musste, andererseits, weil er hoffte, noch mehr Informationen über Wolfgang Reuter zu bekommen. Vielleicht half ihm dieses Treffen mit dem besten Freund des Opfers, etwas mehr Klarheit zu schaffen oder die gesuchte Verbindung ins Allgäu herzustellen. Wenn er allerdings ganz ehrlich zu sich selbst war, interessierte ihn all das nur am Rande. Viel lieber würde er mehr über Jessica erfahren. Martin Hansen musste sie schließlich mehr als gut kennen, wenn er mit ihrem Schwager befreundet gewesen war. Außerdem waren Jessica und Martin beide Polizisten und damit Kollegen gewesen.
Seit dem Treffen im »Feuertempel« vor über zwei Wochen hatte er Jessica nicht mehr gesehen. Die Handynummer, die sie ihm etwas widerwillig aufgeschrieben hatte, war falsch. Diese Nummer existierte nicht. Für Florian war das ein Zeichen gewesen, dass sie ihn nicht wiedersehen wollte. Das und die Tatsache, dass sie sich auch nicht bei ihm gemeldet hatte, denn sie hätte sowohl auf dem Revier als auch privat auf seinem Handy anrufen können. Doch ganz abgehakt hatte er diese Angelegenheit noch nicht. Diese Frau zog ihn beinahe magisch an. Vielleicht lag es gerade an der Schwierigkeit, ihr näherzukommen und dass es für ihn eine so große Herausforderung darstellte, was die ganze Sache noch aufregender machte. Sein Jagdinstinkt war jedenfalls geweckt.
»Du hattest doch damals sicher auch Kontakt zu der Ehefrau und der Schwägerin von Wolfgang, oder?«, fragte Florian, obwohl er die Antwort bereits kannte. Martin Hansen nickte zustimmend.
»Was hältst du von den beiden Schwestern?« Jetzt sah Martin ihn fragend an, runzelte die Stirn, beschloss dann aber für sich, dass die Frage nicht darauf abzielte, Susanne und Jessica in den Dreck zu ziehen. Der Beamte hielt sehr viel von den beiden Frauen und würde niemals zulassen, dass die eine oder die andere jemals in den Verdacht gerieten, mit dem Mord etwas zu tun zu haben.
»Wolfgangs Frau Susanne ist eine ganz liebe«, begann Martin und gab der Kellnerin mit seiner