Schattenklamm. Mia C. Brunner
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Er könnte schreien!
Würde ihn jemand hören? Würde er jemanden in eine tödliche Falle locken, wenn er sich bemerkbar machte? Würde er … würde er seine Kinder jemals wiedersehen?
Die Gewissheit traf ihn hart, doch sie ließ ihn schlagartig ganz ruhig werden. Er würde sterben, er würde diesen Raum nicht lebend verlassen. Er würde seine beiden Kinder niemals wiedersehen.
»Okay«, schloss er verbittert, aber seelenruhig sein Leben ab. »Dann drück ab!«
Er hörte den Schuss nicht, fühlte nur die Wucht der Explosion in seiner Brust, spürte keinen Schmerz, aber auch keine Angst mehr. Das Gefühl für seinen Körper verließ ihn gänzlich. Seine Beine gaben nach, widersetzten sich jeglichem Versuch der Kontrolle und sackten einfach in sich zusammen. Langsam rutschte er an der glatten Wand hinunter, bis sein Hintern den Boden berührte und sein Oberkörper zur Seite kippte und schwer auf dem Boden aufschlug. Er hatte vergessen zu atmen und sog mühsam die trübe Luft durch seinen Mund, füllte seine Lungen mit Sauerstoff und schmeckte verbrannten Atem und Eisen auf seiner Zunge.
Schlagartig setzte der Schmerz ein und ließ ihn stöhnen. Er hörte, wie die Tür geöffnet wurde.
War Hilfe gekommen?
Gab es Rettung?
Gut, dass sein beflecktes Hemd jetzt nicht auch noch Blut durchtränkt war. Blut war schwer wieder rauszubekommen, hatte er einmal gehört. Seine Hand fuhr instinktiv an das klaffende blutende Loch in seiner nackten Brust und er presste mit aller Kraft seine Finger dagegen, um den Blutfluss zu stoppen, um den Tod aufzuhalten, um den Schmerz unter Kontrolle zu bekommen. Doch als er mühsam an sich hinuntersah, bemerkte er, dass nichts – keine Hand, keine Finger – sein Blut aufhielt, weiter ungehindert seinen Körper zu verlassen. Sein Arm lag reglos hinter seinem Rücken, unwirklich verschränkt und ebenso nutzlos wie der Rest seiner Gliedmaßen.
Ergeben schloss er die Augen, rief sich das Bild seiner beiden Kinder ins Gedächtnis, atmete ein letztes Mal aus und ging für immer.
Kapitel 2
Wieder und wieder stieß die kleine Handschaufel in die kalte, schwarze Erde und grub kleine Löcher von etwa 15 Zentimeter Tiefe. Eins neben dem anderen.
Jessica Grothe kniete im viel zu hohen Gras vor dem noch recht kargen Beet am Grundstücksrand, hob die Hand, in der sie die Schaufel hielt, und wischte sich mit dem Ärmel ihrer Jacke den Schweiß von der Stirn. Dunkler Sand rieselte auf ihre Jeans.
Es war Oktober, ein sonniger Tag, doch der kalte Wind ließ einen frösteln, wenn man sich nicht einhüllte in warme Klamotten oder sich ausreichend bewegte. Wenn man beides tat, dann kam man ganz schön ins Schwitzen.
»Tante Jessi?« Das kleine, blonde Mädchen neben ihr sah sie fragend an. »Warum pflanzen wir die Blumen jetzt, wo doch schon bald der Winter kommt? Blumen mögen doch den Winter nicht, oder?« Auf allen vieren kroch die Kleine näher zu Jessica und setzte sich neben sie ins Gras, dann zog sie den Korb mit den Tulpenzwiebeln zu sich heran, griff hinein und versenkte eine der Zwiebeln in einem der noch freien Löcher.
»Das stimmt, Svenja«, gab ihre Tante zu. »Doch die Tulpen bleiben im Winter unter der Erde und sobald es im Frühjahr warm wird, kommen sie heraus und blühen in den schönsten Farben. Tulpen und Krokusse sind die ersten bunten Blumen zu Beginn der warmen Jahreszeit«, erklärte sie, nahm dann ebenfalls eine Tulpenzwiebel aus dem Korb und hielt sie ihrer Nichte vors Gesicht. »Hast du daran gedacht, dass du die Zwiebeln immer mit dem Popo nach unten in die Erde legst?«
Svenja kicherte: »Klar, sonst wachsen sie ja in die falsche Richtung und kommen in Australien heraus.« Dann nahm sie Jessica die Zwiebel aus der Hand und stopfte sie in ein Erdloch. »Gute Nacht, kleine Blume«, sagte sie und füllte das Loch mit Erde auf. »Bis zum Frühling, dann sehen wir uns wieder.«
Jessica schmunzelte. Die Tochter ihrer Schwester Susanne war ein so fröhliches, liebreizendes Mädchen, überhaupt nicht schüchtern, doch höflich und stets darauf bedacht, anderen zu helfen. Und dabei war sie gerade erst sechs Jahre alt. Vor ein paar Wochen wurde sie eingeschult und ging seit diesem Tag jeden Morgen stolz und erhobenen Hauptes in die nahe liegende Grundschule, erledigte sorgfältig die Hausaufgaben und war dann stets mit Kindern aus der Nachbarschaft oder aus ihrer Klasse zum Spielen verabredet. Susanne konnte wirklich stolz auf sie sein. Auf ihre beiden Kinder, denn auch ihr kleiner Sohn Tobias entwickelte sich prächtig. Tobias war noch nicht ganz drei Jahre alt und besuchte einen Kindergarten am Stadtrand. Trotz anfänglicher Befürchtungen, er würde nicht dort bleiben wollen, hatte auch bei ihm alles wunderbar geklappt und er hatte sich ohne Probleme gut in die neue Gruppe integriert.
»Meinst du, Oma und Opa kommen nicht doch schon heute?« Svenja drückte die letzte kleine Blumenzwiebel in die Erde und rieb dann ihre schwarzen Hände an ihrer Cordhose ab. »Wenn der Zug ganz schnell fährt, dann kommen sie vielleicht früher«, sagte sie hoffnungsvoll.
Gespielt entsetzt schlug Jessica die Hände über dem Kopf zusammen: »Himmel, nein. Ich hoffe, die beiden lassen sich noch ein bisschen Zeit. Wir haben doch noch nicht einmal den Kuchen gebacken.«
Svenja nahm die Hand ihrer Tante und ließ sich von ihr hochziehen. »Ja«, nickte sie zustimmend. »Gut, wenn Oma und Opa erst morgen kommen. Falls der Kuchen anbrennt, können wir morgen immer noch einen kaufen.«
Das heiße Wasser lief in breiten Rinnsalen über ihren schlanken Körper und wärmte und belebte sie gleichermaßen. Jessica liebte es, richtig heiß zu duschen. So heiß, dass es beinahe schon wehtat. So heiß, dass dicke Nebelschwaden die Luft im ganzen Badezimmer in eine trübe milchig-matte Soße verwandelte, warmer Sauerstoff beim Atmen in ihre Lungen strömte und sie auch von innen wärmte. Nachdem das Wasser auch die letzten Reste Seifenschaum aus ihrem schulterlangen Haar gespült hatte, griff sie nach der Mischbatterie und drehte den Hebel von links ganz nach rechts, sodass die eben noch brühheißen Tropfen schlagartig um gute 30 Grad kälter auf ihren Körper prasselten. Wie immer biss sie fest die Zähne zusammen und unterdrückte den Schmerzensschrei, der ihrer Kehle entrinnen wollte. Scharf sog sie die Luft durch die Nase, zählte rückwärts von zehn bis null und schaltete dann die Dusche aus. Sie stieg aus der schmalen Duschkabine. Ihre Haut war aufgrund der angeregten Durchblutung schön gerötet und schimmerte von unzähligen Wassertropfen, ihre Haare klebten dunkel und schwer an ihrem Kopf. Eigentlich waren sie blond und wellten sich recht wild um ihr Gesicht, fielen ihr über die Augen und waren kaum zu bändigen. Also wurden sie meist morgens mit einem Zopfband auf dem Hinterkopf zusammengebunden und erst am Abend wieder befreit. Ein Pferdeschwanz war praktisch, unkonventionell und pflegeleicht. Er ersparte ihr viele Stunden Haarpflege wie Kämmen, Föhnen oder womöglich häufige Friseurbesuche und machte das Leben um einiges leichter.
Sie ging zum Fenster und öffnete es einen Spalt, um die Raumluft in dem winzigen Badezimmer wieder klar zu bekommen. Das viel zu kleine Fenster reichte in den Garten hinaus. Es war von außen nicht einsehbar, da es unter der Erde lag und lediglich ein kleiner Schacht Licht von der Erdoberfläche zu ihr in den Keller leitete.
Schon beim Einzug vor vier Monaten war sofort klar, dass sie mit ihrer Habe in den Kellerraum des Reihenhauses ziehen würde, damit ihre Schwester mit ihren zwei Kindern im ersten Stock jeder ein Zimmer bewohnen konnte und die ganze kleine Familie zusammenlebte. Die drei brauchten sich gerade jetzt sehr.
Gut, im Gegensatz zu ihrem Leben früher hatten sie sich mit diesem Vorstadtreihenhaus um einiges verschlechtert, doch es erfüllte seinen Zweck, war immerhin bezahlbar und weit genug weg, um vom alten Leben Abstand zu bekommen und wieder Ruhe zu finden.
Auch