Mord bei den Festspielen. Sibylle Luise Binder
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Stephen Müller hat aber dennoch recht – und wenn er Intendant, Dirigent und Regisseur in einer ruhigen Stunde im Vertrauen fragen könnte, bekäme er das bestätigt. Dann würde der Intendant ihm verraten, dass er ja viel lieber diesen jungen, spektakulären Bariton engagiert hätte, der ihm neulich bei einem Lehrgang aufgefallen ist. Aber den kenne kein Mensch und mit dem könne er keine Tickets für 300 Euro verticken und kriege keinen Kooperationsvertrag mit Yonic, dem Marktführer für klassische Musikaufnahmen. Michail Piotrowitsch würde ebenfalls erklären, dass er lieber den jungen Bariton gehabt hätte, aber dass seine 120 Musiker im Orchester jeden Monat ihr Gehalt wollen und man das nicht mit unbekannten Größen verdient.
Regisseur und Sänger Lucas schließlich würde seufzen und auf seinen Vertrag verweisen, der nichts über ein Mitspracherecht bei der Besetzung sagt, aber eine Menge bezüglich seiner Loyalitätspflicht gegenüber dem Bregenzer Opernfestival.
Und so kam’s, dass wir bei den Proben unter Miercoledi, seinen Stimmproblemen und seinen Allüren litten, und Lucas und ich mussten obendrauf noch aushalten, dass der gesamte Miercoledi-Clan – Mario, Ehefrau Giulia und die erwachsenen Töchter Marietta und Mafalda – neben uns wohnte. Ob ihrer Lautstärke ließen sie uns öfter überlegen, ob das Familienoberhaupt nicht nur an Selbstüberschätzung, sondern auch an Schwerhörigkeit litt. Ohrenstöpsel gehörten zu unserer Standardausrüstung, wenn wir ins Bett gingen. Die Miercoledis waren nämlich zu allem Glück auch noch nachtaktiv.
Auch in dieser Nacht trieben sie wieder ziemlich um – und ich bewunderte ihr Durchhaltevermögen. Um halb zwei wäre mir nicht danach, mit der ganzen Familie zu diskutieren. Mir war noch nicht einmal danach, dem leisen Atmen meines schlafenden Mannes zuzuhören. Stattdessen schlüpfte ich in Jeans und T-Shirt und beschloss, im Park des Hotels direkt am Seeufer noch etwas frische Luft zu schnappen.
1 Giuseppe Verdi hat die Oper nach dem Schauspiel von Friedrich Schiller geschrieben. Dabei gibt es eine italienische und eine französische Version. Lucas macht am Bodensee die französische.
Kapitel 2: Lucas’ Vergangenheitsbewältigung
Am Bodensee,
Anfang Juli 2018
Ich saß auf einer kleinen Bank am Seeufer, durch die Hecke hinter mir nicht nur vor Blicken, sondern auch vor dem Wind geschützt, sah hinaus auf den See, der im Mondlicht silbrig leuchtete, und dachte über den Abend nach. Wir hatten die Probe relativ früh beendet – Überstunden kosten in der Oper Geld, daher versucht man, sie zu vermeiden – und während ich noch mit dem Beleuchter diskutiert hatte, waren Lucas und Mischa, Dirigent der Produktion und einer meiner ältesten Freunde, schon einmal zu unserem Lieblingsitaliener auf dem Marktplatz gegangen.
Die beiden hatten mal wieder ein echtes »Männergespräch« geführt, sprich: Sie hatten in ihre Biergläser gestiert, ab und zu einen Schluck getrunken und dabei gegrunzt. Die Kommunikation genügte ihnen, jedenfalls hatten mir die zwei schon unabhängig voneinander versichert, der jeweils andere sei ein »toller Gesprächspartner«, der »nie nerve«.
Ich setzte mich dazu, bestellte einen Latte macchiato mit Karamellsirup, streckte die Beine und ließ, den Kopf an die Schulter meines Mannes gelehnt, die Seele ein wenig baumeln.
Doch lange konnte ich die Ruhe nicht genießen. Es vergingen keine zehn Minuten, dann tönten nämlich die Sopranposaunen von Spoleto über den Platz. Die Männer schreckten zusammen, ich bekam Gänsehaut und suchte nach einem Mauseloch zum Verschwinden, doch es nützte uns nicht. Giulia Miercoledi, ihre Töchter Marietta und Mafalda hatten Bregenz’ Einzelhandel zu einem ordentlichen Konjunkturschub verholfen, beklagten sich nun aber auf Italienisch darüber, dass sie in dieser Provinz nirgends die neue Gucci-Pucci-Mucci-Kollektion gesehen hatten! Dabei war – so jedenfalls befand Mutter Miercoledi – der Besitz einer dieser »zuckersüßen Clutches« doch existentiell!
An der Stelle schaute ich beschämt auf die schon reichlich angegammelte blaue Tasche aus recycelter LKW-Plane, in der ich Notebook, Partitur, Produktionsordner und – laut Lucas – ein dreiviertel Pfund Büromaterial mit mir herumschleppte. Ich war mir mal wieder sehr bewusst, dass ich in meiner bequemen Cargohose unter einem Big-Shirt mit einem von Lucas geklauten Flanellhemd nie als »Society-Schönheit Victoria Benning« beschrieben werden würde. Dafür aber hatte ich kein Problem damit, in der Malerwerkstatt auf einem Farbeimer zu sitzen, und in meinen vielen Hosentaschen fand alles Platz – vom Markierband über das Metermaß, das Notizbuch, den Schraubenzieher bis hin zum Probenplan. Und gegenüber Madame Miercoledi hatte ich noch einen Vorteil: Ich weiß für gewöhnlich, wo mein Bariton sein müdes Haupt zur Ruhe bettet, und kann mich darauf verlassen, dass er nur auf der Bühne den Don Giovanni gibt.
Die Miercoledi-Damen waren bei uns angekommen, meine wohlerzogenen Herren waren aufgestanden und hatten ihre Handibussis bei Madame abgeliefert, während ich ein wenig Blabla mit den Töchtern veranstaltet hatte. Die beiden taten mir leid. Sie waren mit einem silbernen Löffel im Mund geboren worden, sie hatten alles gehabt – außer der Liebe und Zuwendung ihrer Eltern. Ihr Vater war hauptsächlich mit seiner Geilheit und der Gier nach Ruhm und Reichtum beschäftigt gewesen, während ihre Mutter ihm atemlos hinterhergehechelt war, immer in der Sorge, dass er sie für eine seiner Geliebten verlassen würde.
Die beiden Töchter waren für das Paar PR-Requisiten gewesen – Bilder von ›MM‹ als liebevollem Vater hatten sich immer bestens verkauft und immer noch ließ er keine Gelegenheit aus, sich mit der durchaus attraktiven Nachkommenschaft fotografieren zu lassen. Doch Marietta und Mafalda war anzumerken, dass ihnen nach Eigenständigkeit gewesen wäre.
Beide hatten diesbezüglich Versuche unternommen. Marietta hatte ein paar Semester Musikwissenschaft studiert und eine Stelle als Volontärin bei einer großen italienischen Zeitung gefunden. Doch ihr Vater hatte befunden, dass man sie nur um ihres Namens und ihrer Beziehungen willen eingestellt habe. Sie hatte kündigen müssen und wurde seitdem von Herrn Papa geneigten Regisseuren als Assistentin angedient – allerdings immer nur für die Produktion, bei der er dabei war und auf Töchterchen aufpassen konnte. Bei Lucas hatte das allerdings nicht geklappt. Der hatte eine diesbezügliche Anfrage von Miercoledi mit einem »Danke, aber nein danke« beantwortet.
Mafaldas Geschichte war noch trauriger als die ihrer Schwester: Sie war von ihrer Mutter ausersehen worden, den Traum zu leben, an dem Giulia gescheitert war. Diese war Tänzerin – dritte Reihe, zweiter Schwan von links – gewesen, als sie ihren Tenor-Helden getroffen hatte. Ein paar Wochen später war sie schwanger gewesen und nun erzählte sie, dass diese Schwangerschaft ihre »Karriere« beendet habe. Ich hatte diese Story auch einmal zu hören bekommen, und als wohlerzogener Mensch hatte ich es mir verkniffen, laut darüber nachzudenken, dass sie mit ihren damals 28 Jahren keine Chance mehr gehabt hätte, sich aus dem Corps de Ballet nach vorne an die Rampe zu tanzen.
Dafür sollte es später die Tochter schaffen und so hatte sie ihre Kindheit und Jugend im Ballettstudio verbracht. Tatsächlich war sie talentiert und nach ihrer Abschlussprüfung in der berühmten John Cranko Schule in Stuttgart hatte sie ein Engagement beim Stuttgarter Ballett bekommen. Ein Jahr später – sie war da gerade 18 Jahre alt gewesen – hatte sie sich im Urlaub mit den Eltern bei einem von ihrem Vater verursachten Bootsunfall das Knie verletzt. Ihre Karriere als Ballerina war zu Ende gewesen, seitdem reiste sie mit dem Vater, wirkte aber ziellos und gelangweilt.
Wie »idyllisch« das Familienleben bei Superstars verlief, bekamen wir öfter vorgeführt. So waren wir vor ein paar Tagen aus einer Pizzeria geflüchtet, weil die Familie Miercoledi nebenan über Geld diskutiert hatte. Obgleich mein Italienisch nicht gut ist, reichte es, um mitzubekommen,