So große Gefühle!. Anselm Grün

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So große Gefühle! - Anselm Grün

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Sprache verschlägt. Fragt doch meine Pia neulich, ob ich STERBEN könne. Einfach so! – Mir ist der Kinnladen runtergefallen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, habe irgendwas gesagt …« Sie schüttelt ihren Kopf: »Aber was soll man da machen? Man will ja nichts Verkehrtes sagen, lenkt ab auf ein anderes Thema. – Gott sei Dank hat das Kind nicht weitergefragt.«

      Dabei würden häufig einfache Dinge helfen, meint Beatrice, die Mutter eines Achtjährigen. Julian hätte neulich etwas über ein Erdbeben gelesen und sie gefragt, ob so etwas auch bei ihnen passieren könne. Er hätte den Papa auch schon gefragt. Der habe ihm erklärt, dass es bei uns keine Erdbeben geben könne, und ihm das bei Google gezeigt. Das Kind war aber mit der Antwort nicht zufrieden, das Erdbeben hätte ihn weiter beschäftigt. Sie habe dann auch angefangen, ihm die Ursachen von Beben zu erklären. Aber Julian wäre immer unruhiger geworden, bis er mit den Füßen aufgestampft und laut gerufen hätte: »Aber das will ich doch gar nicht wissen!« Ungehalten habe sie gefragt: »Ja, was willst du denn wissen?« Daraufhin hätte ihr Sohn sie umarmt und leise gesagt: »Ich will wissen, ob du bei mir bist, wenn ein Erdbeben kommt!« Sie habe ihn in den Arm genommen und nichts mehr gesagt. »Warum machen wir es uns so schwer und kompliziert, wenn es die Kinder so einfach haben wollen?«

      Alles nicht so einfach …

      Ja, warum eigentlich, könnte man sich fragen. Diese kleine Gesprächsrunde zeigt viele Facetten auf, wenn es um die Emotionen von Kindern geht und die Versuche, ihnen auf den Grund zu gehen. Die kindlichen Gefühlslagen lösen ihrerseits bei Eltern und Erwachsenen, die die Kinder begleiten, eine ganze Gefühlspalette aus, die von Nachdenklichkeit und Zweifel bis hin zur Hilflosigkeit reicht. Gefühle der Kinder ziehen einen Zwiespalt nach sich!

      Eltern wollen Kinder, die Gefühle zeigen – Freude, Glück, Fröhlichkeit. Andere Emotionen wiederum sind nicht so wohlgelitten, irritieren, ängstigen, lösen bei einem selbst heftige Emotionen aus – Wut, Zorn, Ungehaltensein, Verzweiflung, Scham, Hilflosigkeit, vor allem jedoch UNSICHERHEIT!

      WER SAGT UNS, WIE ES RICHTIG GEHT?

      Eltern wollen in diesen Augenblicken Sicherheit, sie brauchen die Gewissheit, angemessen zu handeln. Doch kommt ihnen da der kindliche Eigensinn in die Quere. Kinder entwickeln sich nicht nach Lehrbuch, lassen sich schon gar nicht nach vermeintlich plausiblen Rat-Schlägen erziehen, wie man sie in vielen Elternratgebern oder -foren findet. Rat-Schläge sind getarnte Schläge, deren blaue Flecken man erst dann bemerkt, wenn das eigene Kind ganz anders agiert, wie es im Buche steht. Wenn das, was man gelesen hat, nicht funktioniert. Man macht eben die Rechnung ohne den Wirt, sprich: die Kinder. Jedes davon ist einzigartig und ein wunderbarer LEHRMEISTER, der seine Eltern immer aufs Neue vor neue, andere Aufgaben stellt. Und wenn man als Mutter oder Vater meint, eine Aufgabe gelöst zu haben, dann steht die nächste schon vor der Tür. Man wäre in der Erziehung eigentlich nie am Ende, seufzte einmal eine Mutter in der Beratung. So ist es! Oder anders formuliert: Ohne Schweiß kein Preis!

      Gleichwohl ist das Bedürfnis von Eltern nach Sicherheit, nach Erklärung für bestimmte Verhaltensweisen ihrer Kinder zu verstehen. Ja sie haben einen Anspruch darauf. Hier fällt nun jedoch auf: Sie geben sich selbst ihre passenden Antworten und suchen Erklärungen, vor allem in Form von Schuld, zumeist bei sich! Hin und wieder sind auch die anderen dran. Dann ist es die Gesellschaft, die Schule, der falsche Freund, die Medien und, und, und …

      WERDEN KINDER IMMER SCHLIMMER?

      Doch meistens landet man bei der eigenen Person. Dies ist zweifelsohne auch Ergebnis eines Elternbashings, das sich landauf, landab durch die mediale Berichterstattung oder die Hitzewallungen im Internet breitgemacht hat. Dort wird den verunsicherten Eltern sehr plastisch deutlich gemacht, wohin ihre falsche Erziehung führt: zwangsläufig in den Abgrund in Form von verhaltensgestörten, unsozialen, egoistischen Kindern! Und wer will das schon! Meist werden die Aussagen dann noch mit Studienergebnissen unterlegt, die beweisen, wie verwahrlost, unerzogen und gemein die Kinder von heute sind – unter der Überschrift: Früher war alles besser! Dazu passt die populäre Formel: Kinder werden immer schlimmer!

      Zum Kind stehen

      Natürlich gibt es auch Erziehungsfehler, Und es geht hier auch nicht darum, Eltern, die kindliche Bedürfnisse nach Nähe und Geborgenheit nicht einlösen, freizusprechen, nein: Es geht darum, Mütter und Väter zu ermutigen, in BEZIEHUNG zu sich zu kommen, sich so anzunehmen, wie man ist, mit allen Stärken, aber eben auch den Schwächen. Und zwar in dieser Reihenfolge – und nicht umgekehrt! Nur so können sie in eine aufrichtige Beziehung zu ihrem Kind treten. Denn nur dann kann man auch sein Kind annehmen, so wie es ist – mit all seinen Stärken und all seinen »Macken«, mit all seinen Gefühlen, seiner Freude, seiner Wut, seinem Zorn, seiner Angst und Unsicherheit. Konkret heißt das: Seinen Dreijährigen gelassen anzunehmen, wenn er an der Supermarktkasse am Boden liegt, schreit, sich wälzt und lautstark brüllt und wenn man als Mutter oder Vater denkt: Boden, öffne dich! In dieser Situation zum Kind zu stehen, allen dadurch zu zeigen: »Das ist meiner!«, vielleicht mit dem Hintergedanken: »Er kann auch anders!«, dann steht man zum Kind, ist parteilich und solidarisch. Und der Dreijährige spürt diese Haltung!

      Indem man ruhig dasteht, verkörpert man einen STANDPUNKT, der Kindern Halt und Sicherheit gibt – gerade in Augenblicken, in denen sie von Gefühlen überwältigt werden, sie sich im Chaos ihrer Emotionen zu verlieren und darin unterzugehen drohen. Solch ein Standpunkt unterstützt Kinder mehr als Beschwichtigungen oder Versuche, die Wut zu unterdrücken.

      ICH LASSE DICH, ABER ICH HALTE DICH AUCH

      Doch setzt so ein Standpunkt, so eine Haltung eine erzieherische Gelassenheit voraus. Die hat freilich nichts zu tun mit einem gleichgültigen Gewährenlassen im Sinne von: Da kann ich sowieso nichts machen! Oder: Kinder sind eben so! Gelassenheit bedeutet aber auch nicht gedankenloses Fallenlassen. Man kann ein Kind zum rechten Zeitpunkt loslassen, aber man darf und kann es nicht fallen lassen. Kinder müssen ihre, manchmal auch schmerzhaften, Erfahrungen machen. Aber diese können sie nur für sich nutzen, wenn sie um eine haltgebende und verlässliche Geborgenheit wissen.

      VOM SCHWIMMEN LERNEN

      Im Talmud, einem der wichtigsten Traditionswerke des Judentums, stehen Regeln, die den Juden Antworten auf die wichtigsten Fragen des Lebens geben. Die fünfte lautet, die Kinder das Schwimmen zu lehren. Das hört sich merkwürdig an: Schwimmen – gibt es nicht wichtigere Themen in der Erziehung?

      Doch schaut man sich diese Regel genauer an, enthält sie auf wundersame Weise die Balance und die Spannung von HALTGEBEN und LOSLASSEN. So liegt der Säugling in den ausgestreckten Armen von Vater und Mutter, deren Arme fast auf der Wasseroberfläche ruhen. Das Kind hat das Gefühl absoluter Geborgenheit: Mir kann nichts passieren! Wenn es älter ist, können die Eltern die Arme etwas tiefer sinken lassen, weil das Kind sich mit ungestümen, eckigen Bewegungen über Wasser zu halten vermag. Aber wenn seine Kräfte nachlassen, sollten die Eltern ihre Arme wieder stützend nach oben führen. Das Kind kann sich zugleich fallen lassen und aufgehoben fühlen. Und irgendwann kann es auch schwimmen und sich allein über Wasser halten. Es entfernt sich, ist vielleicht sogar der Begleitung durch die Eltern überdrüssig geworden. Jetzt können Vater und Mutter die Arme aus dem Wasser nehmen: Sie sind leer und erfüllt zugleich, weil sie ihr Kind eine Technik gelehrt haben, mit der es im Zweifelsfall überleben kann. Dieses Erfüllen kann nur im Loslassen geschehen, ein Lernprozess, der erlebt wird, wenn man Kinder ins Leben begleitet. Nichts anderes stellt ja Erziehung dar.

      WOHLÜBERLEGT IST HALB VERLOREN

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