So große Gefühle!. Anselm Grün
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Die Jünger streiten sich darum, wer der Größte im Himmelreich sei. Es geht ihnen um Anerkennung vor Gott und vor den Menschen. Damit zeigen sie, dass sie nichts verstanden haben von der Botschaft Jesu. Jesus stellt deshalb ein Kind in ihre Mitte und sagt: »Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen.« (Mt 18,4)
Das heißt nicht, dass wir infantil werden sollen. Als Erwachsene sollen wir vielmehr HINEINSPÜREN in das Wesen eines Kindes. Das Kind ist spontan, es drückt seine Gefühle aus. Es ist aber auch offen für alles, was um es herum geschieht. Es sieht alles mit neuen Augen an. Diese Offenheit und Neugier braucht es offensichtlich, um offen zu sein für das Geheimnis Gottes. Viele Erwachsene haben sich eingerichtet in ihrem Leben. Sie kennen sich aus. Aber sie haben sich auch dem Neuen und Unerwarteten gegenüber verschlossen. Das Kind vertraut dem Vater. So sollte auch der erwachsene Christ sein. Er sollte sich wie ein Kind verwiesen fühlen auf den Vater im Himmel, sich an den Vater anlehnen, zum Vater aufschauen. Das Kind erwartet etwas vom Vater und von der Mutter. Es erwartet LIEBE und Halt, Geborgenheit und Si cherheit. Diese Erfahrungen des Kindes sollten wir – so meint Jesus – auch als Erwachsene ernst nehmen und uns als Menschen verstehen, die sich nach Liebe und Geborgenheit sehnen, die den Mut haben, ihre eigene Bedürftigkeit anzunehmen und auszudrücken.
MIT DEM INNEREN KIND IN KONTAKT KOMMEN
Der Text sagt für mich noch etwas anderes: Wir sollten nicht nur erziehen. Wir sollten erst einmal auf jedes Kind hören, was in ihm steckt. Jedes ist einmalig. Bevor wir erziehen, sollten wir uns dieser Einmaligkeit bewusst werden. Wir sollten dem Kind nicht Erwartungen und Bilder und Vorstellungen überstülpen. Wir sollten uns vielmehr hineinmeditieren in das Geheimnis dieses Kindes. Dann erst können wir Wege finden, um mit ihm angemessen umzugehen. Ein Kind lernt nicht nur von uns. Wir sollen von ihm lernen, wir sollen im Hören auf es wieder in Berührung kommen mit dem inneren Kind in uns. Das Kind erinnert uns daran, dass wir ganz wir selbst werden, frei von den Rollen, die wir spielen, und von Masken, die wir aufgesetzt haben.
Wie die Kinder werden, das bedeutet für mich auch: Ich soll wieder lernen, wie ein Kind zu werden. Das heißt: Fragen stellen, staunen, mich spontan freuen. Wir haben das Kind in uns oft genug versteckt. Es will aber wieder aufleben und uns mit der LEBENDIGKEIT in Berührung bringen, die ein Kind auszeichnet. Es möchte uns neugierig machen auf das Geheimnis des Lebens. Und Kindsein bedeutet auch: authentisch sein, sich freimachen von den Bildern, die andere uns übergestülpt haben, und von Bildern, mit denen wir uns selbst einengen. Wie ein Kind werden, das heißt, die Welt wieder mit den Augen des Kindes zu sehen, alles infrage zu stellen, so wie ein Kind alles infrage stellt, aber auch dankbar zu sein für jeden Augenblick.
SICH VON GOTT BERÜHREN LASSEN
Markus erzählt uns, wie Mütter ihre Kinder zu Jesus bringen. Sie möchten, dass er sie berührt und segnet. Damit spielt der Apostel auf eine Gewohnheit unter den Juden an: Kinder wollten vom Vater gesegnet werden, damit sie Schutz erfahren in ihrem Leben. Doch die Jünger wollen die Mütter wegschicken. Sie meinen, sich mit Kindern zu beschäftigen sei Energieverschwendung. Es gäbe Wichtigeres zu tun. Erwachsene sollten sich mit der Heiligen Schrift, mit der Thora, den Weisungen Gottes, beschäftigen und nicht mit Kindern spielen. Aber Jesus tritt für die Kinder ein. Er weist seine Jünger zurecht: »Lasst die Kinder zu mir kommen; hindert sie nicht daran! Denn Menschen wie ihnen gehört das Reich Gottes.« (Mk 10,14) Für Jesus sind die Kinder wichtig, er möchte sich Zeit für sie nehmen. Denn in ihnen sieht er Menschen, die sich von Gott berühren lassen. Erwachsene wollen Gott oft genug für sich benutzen. So sollen sie von den Kindern lernen, Gott Raum zu geben und sich von ihm befreien zu lassen von Lebensmustern.
Mit Liebe und Zuversicht erfüllen
Markus zeigt, wie Jesus sich auf die Kinder einlässt.
Jesus nimmt die Kinder in den Arm. Er umarmt sie, zeigt ihnen seine Liebe, wendet sich jedem einzelnen zu und schenkt ihm durch seine Umarmung Geborgenheit und das Gefühl, dass es absolut und bedingungslos geliebt ist.
Dann legt Jesus den Kindern die Hände auf. Die Handauflegung hat verschiedene Bedeutungen. Sie ist einmal eine Schutzgebärde. Jesus bietet den Kindern Schutz an. Und die Handauflegung vermittelt den Heiligen Geist. Jesus lässt in der Handauflegung seinen Geist, seine Liebe, seine Kraft in die Kinder einfließen. Er möchte, dass sie alle Ängste und Zweifel aus dem Kind vertreiben und es mit Liebe und Zuversicht erfüllen.
Und dann segnet Jesus die Kinder. Das griechische Wort »eulogein« meint, dass Jesus gute Worte über die Kinder sagt, Worte, die aufrichten, die ermutigen, die etwas Gutes den Kindern zusprechen. Kinder brauchen gute Worte. Aber sie merken genau, ob es schöngeredete Worte sind, oder echte Wort, die das Gute in ihm ansprechen und es dadurch hervorlocken.
WAS ELTERN KINDERN GEBEN KÖNNEN
Diese drei Weisen, wie Jesus die Kinder behandelt, sind schöne Bilder für das, was Eltern ihren Kindern geben könnten: Sie sollen sie umarmen und ihnen in der Umarmung zeigen, dass alles in ihnen von den Eltern angenommen und geliebt wird, dass sie sich bei den Eltern geborgen und sicher fühlen können.
Die Handauflegung zeigt, dass die Eltern den Kindern etwas von dem vermitteln, was in ihnen selbst ist, was sie selbst von Gott empfangen haben. Sie lassen ihren Geist in die Kinder einströmen. Sie geben ihnen das Wertvollste mit, das sie haben: ihre Liebe, ihre Kraft, ihre Hoffnung, ihr Vertrauen, ihre Art und Weise, das Leben zu bewältigen.
Und die Eltern sollen gute Worte zu dem Kind sprechen. Böse Worte, verletzende Worte verschließen die Herzen der Kinder. Böse Worte – so sagt ein alter Mönchsspruch aus dem vierten Jahrhundert – machen auch die Guten böse. Gute Worte machen auch die Bösen gut. Worte können verwandeln. Daher sollen die Eltern gut darauf achten, wie sie zu den Kindern sprechen und wie sie mit ihnen und über sie sprechen.
BIBELGESCHICHTE
Die Geschichte vom zwölfjährigen Jesus zeigt uns einen typischen Konflikt in der Pubertät. Jesus hat sich selbstständig gemacht und sich von der Familie gelöst. Maria und Josef klammern offenbar nicht fest. Sie meinen, ihr Kind sei bei der Rückkehr von der Wallfahrt nach Jerusalem mit den Verwandten und Bekannten gegangen. Doch als sie ihn bei denen nicht finden, bekommen sie Angst und gehen zurück nach Jerusalem. Nach dreitägiger Suche finden sie ihn. Da sagt Maria: »Kind, wie konntest du uns das antun? Dein Vater und ich haben dich voll Angst gesucht.« (Lk 2,48) In manchen Handschriften heißt es auch: »Wir haben dich mit Schmerzen gesucht.« Maria und Josef zeigen also als Eltern ihre Gefühle offen. Und sie machen ihm einen Vorwurf, warum er ihnen so viel Schmerzen bereitet hat. Doch Jesus antwortet – gleichsam ohne Emotionen: »Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?« (Lk 2,49)Er versteht gar nicht, warum seine Eltern sich solche Sorgen machen, und Maria und Josef verstehen Jesus nicht. Das ist der typische Pubertätskonflikt. Der Sohn versteht gar nicht, was die Eltern so bewegt, was sie ängstlich und ärgerlich macht, und diese verstehen ihr Kind nicht. Sie können mit seinen Worten und seinem Verhalten nichts anfangen.
Aber dann heißt es von Maria: »Seine Mutter bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen.« (Lk 2,51) Ähnlich hatte sie reagiert, als die Hirten ihr erzählt hatten, was der Engel ihr von ihrem Kind gesagt hatte. (Lk 2,17-19) Aber der griechische Text kennt einen wesentlichen Unterschied in den Reaktionen Marias. Als die Hirten der Mutter die wunderbaren Worte des Engels erzählten, heißt es von Maria im Originaltext »synterein« (aus dem Griechischen: zusammen schauen).