So große Gefühle!. Anselm Grün
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Was die neunjährige Mareille am meisten stören würde in ihrem Alltag? »Wenn meine Eltern sagen, vor allem mein Vater: Du bist doch unsere Große!« Sie könne doch mal nachgeben, wenn es Streit mit der kleinen Schwester gäbe. »Das ist gemein!« Ihre kleine Schwester, die Lena, die ärgere sie manchmal: »Und wenn ich mich dann mal wehre, dann brüllt sie, als würde ich sie umbringen. Dann nimmt der Papa immer die Lena in Schutz!« Sie solle immer die Vernünftige sein. »Aber das ist gemein. IMMER VERNÜNFTIG SEIN!«
Die gleichaltrige Nina erzählt von ihrem älteren Bruder: »Der kann alles, der macht alles, der kriegt alles!« Und er wäre auch sehr nett, aber sie wäre halt anders, sie wäre eine Schnecke: »Ich bin eben langsam. In allem!« Ihre Eltern würden sie STÄNDIG VERGLEICHEN mit ihm. »Dein Bruder konnte schon lesen, als der fünf war, der konnte schon rechnen, als er in die Schule kam.« Und sie sagen zu mir: »Unsere kleine Schnecke! Als ob ich dumm bin!«
Beobachtet mich nicht immer!
FALLGESCHICHTE
»Wenn man sich so überlegt, wie wir früher gespielt haben«, erinnert sich Theo, Vater zweier Jungen: »Das war immer weit weg von zu Hause. Da waren wir unter uns. Natürlich war das nicht nur toll, manchmal gab es da auch was auf die Nuss! Da muss ich so fünf gewesen sein und habe gegen einen größeren Jungen aufgemuckt. Und – rums – hatte ich eine Ohrfeige weg, eine von der feinen Sorte. Hab ich mir gefallen lassen!« Er lächelt: »Irgendwie hat man sich wohl gedacht. Du wirst auch mal groß und Fünfjährige wachsen immer nach!«
Er lasse seinen Kindern möglichst viel Freiheit: »Die brauchen sie auch!« Er habe sich dabei immer an seine Kindheit erinnert, die er als weitestgehend ungebunden und frei erlebt habe. Von der Schule ging es nach Hause, kurz die Schulaufgaben. Und dann nichts wie weg! Die Eltern hätten nur gesagt, dass man um sechs Uhr abends wieder zu Hause sein solle: »Sechs Uhr, da gab’s kein Handy, das klingelte. Da war die Kirchturmuhr. Und da wusste man, es ist Zeit!« Manchmal habe man blutige Kratzer gehabt, manches Mal auch mehrere. Und wenn jemand fragte, ob es wehtun würde, habe man einen auf unverwundbar gemacht: »Geht schon!« Oder man habe einen auf ganz arm gemacht, weil man getröstet werden wollte. Die Mutter habe einen dann in den Arm genommen und der Vater nur gemeint, das habe man davon!
Vier Kinderwünsche
Nimmt man diese Statements, dann werden vier Forderungen von Kindern deutlich, die sie eingelöst haben wollen:
Beobachtet mich nicht immer!
Vergleicht mich nicht immer!
Lasst mir meine Zeit!
Schreibt mir keine Rollen zu!
VOM VERLUST AN FREIRÄUMEN
Das soll nicht heißen, dass alles früher besser war. Der französische Literaturnobelpreisträger Anatole France (1844–1924) hatte dazu den passenden Gedanken: »Nichts ist so sehr für die gute alte Zeit verantwortlich wie das schlechte Gedächtnis!« Es war eben nicht alles besser, aber es war anders.
Das Spiel fand häufig im FREIEN statt, auf dem Feld, im Park, hinter Büschen oder im Wald. Diese »Räume«, die nur den Kindern gehörten, waren keine TÜV-geprüften Räume mit DIN-genormtem Spielmaterial. Die Natur bot so vieles! Die Räume hier musste man sich erst erobern, Erwachsene waren ausgeschlossen. Man blieb unter sich und seinesgleichen! Was für ein Glück!
Da existierte eine Kinderrepublik. Das war kein Ort von basisdemokratischer Glückseligkeit, da ging es auch oft zur Sache. Und trotzdem machte man sich jeden Tag nach dorthin auf, weil man wusste, wer da war und woran man war. Da gab es Regeln, die man selbst schuf – manchmal nicht unbedingt fair und sozial verträglich. Aber man hatte einen Raum für sich.
Heute gibt es natürlich auch noch die Natur, aber jetzt sitzt hinter jedem Busch (meist) eine Mutter. Und wenn das Gedränge dahinter irgendwann zu groß wird, werden die Büsche abgeholzt – Blick frei auf die ungezügelten Kinder.
Auch auf Sportplätzen geht es ja mittlerweile zu wie im Affenzoo. Dort sitzen die kleinen Affen in ihren Käfigen – auf dem Fußballplatz oder in der Turnhalle – und schauen sich die Besucher an, die sie anglotzen. Und damit Stimmung und Bewegung aufkommt, werden die Äffchen von ihren Mamas und Papas mit Bananen gefüttert.
Auf Spielplätzen gibt es keine Früchte, dafür aber Ratschläge bei unbotmäßigem Verhalten. »Jonathan, bitte hör auf!« Oder: »Julius! Julius, müssen wir gehen?« Oder: »Benedikt, was haben wir abgesprochen?« Sollten die Kinder auf diese Weise stillgelegt sein, geht das Gedröhn der Eltern draußen weiter, was man alles für die Kinder tue. Hochleistungspädagogik pur! Und da soll Freude aufkommen?
KINDER WOLLEN SICH SPÜREN
Kinder wollen aber mal für sich sein, möchten unbeobachtet und nur für sich »mal die Sau rauslassen«, ohne dass ihr Verhalten kommentiert oder bewertet wird. Manches Mal gewinnt man den Eindruck, die Mädchen und Jungen benötigten gegenwärtig eine ungeheure Kraft, den Raum und die Zeit ihrer Kindheit gegen ständig anglotzende Erwachsene zu verteidigen.
Kinder brauchen Räume, die sie erobern, die ihnen gehören und für ihre Vorhaben geeignet sind. Im Lied vom »Hänschen klein« heißt es in der zweiten Zeile: »Hänschen klein ging allein!« Welch revolutionärer Satz, der die Bedürfnisse eines Kindes nach körperlicher Tätigkeit spiegelt: Hänschen geht, es wird nicht gefahren, Hänschen (die Hanna natürlich auch) erprobt sich und seinen Körper. Dazu braucht es Wege, die sich im Winter anders anfühlen als im Herbst und im Frühling anders als im Sommer. Was es dazu braucht, ist angemessene Kleidung. Mehr nicht! Und Freunde und Freundinnen, die es begleiten.
Wer Wege geht, Räume erkundet, der gebraucht seinen Körper, der fordert ihn. Nun gibt es tatsächlich auch Wege, die Risiken bergen. Aber mit dem Hinweis auf mögliche Gefahren werden kindliche Körper stillgelegt, entkörperlicht man Erfahrungen, lässt glückhafte Flow-Erlebnisse des sich selbst Erlebens nicht mehr zu. Ein Kind liebt – egal ob Junge oder Mädchen – das Rangeln, das Raufen, das Um-die-Wette-Rennen, weil es ihm und seinem Körper guttut. Wer die körperliche SELBSTERFAHRUNG seines Kindes nicht fordert, nimmt ihm wichtige, für seine gesunde Entwicklung unentbehrliche Erlebnisse.
FALLGESCHICHTE
Veronika, eine Erzieherin, berichtete von einer Erfahrung der besonderen Art: Die fünfjährige Anna hatte einen sehr eng getakteten Tagesablauf, in dem Bewegung eher am Rande vorkam. Deshalb liebte sie zwei Dinge im Kindergarten besonders: »Das Rennen und das Toben mit mir und den anderen Kindern! Sie konnte davon nicht genug kriegen!« Und sie habe sie auch gelassen. Sie hätte ihre Freude daran gehabt und ihre Augen hätten danach jedes Mal vor Zufriedenheit gestrahlt. So weit, so gut. Bis eines Tages Annas Mutter mit bitterbösem Blick auf Veronika zukam und um ein Gespräch bat. Sie wolle nicht mehr, so eröffnete sie mit gestrenger Miene und einem noch gestrengeren Stimmklang, dass Anna im Kindergarten so viel tobe. Als Veronika irritiert schaute und nachhakte, warum die Mutter das unterbinden wolle, lautete