Über Vernunft und Offenbarung in Ibn Taymiyyas Denken. Yusuf Kuhn
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ar-Rāzī stellt darin fest:
Wisse, dass, wenn unbezweifelbare rationale Beweise (ʿilm yaqīnī) uns dazu führen, etwas festzustellen, und wir dann textliche Belege finden, die mit unseren rationalen Beweisen in Konflikt zu stehen scheinen, es dann vier mögliche Szenarien gibt.
Nämlich:
1. Rationale und textliche Beweise werden geglaubt. Das ist aber widersprüchlich, also logisch unmöglich.
2. Die äußere Bedeutung der textlichen Belege wird abgelehnt, aber die rationalen Beweise werden angenommen. Also naql wird abgelehnt und ʿaql angenommen. ar-Rāzī kommentiert dies nicht weiter.
3. ʿaql und naql werden abgelehnt. Dies ist aber logisch unmöglich.
4. Die Schrift (naql) wird geglaubt, aber die Vernunft (ʿaql) abgelehnt.
Das sind die vier logischen Möglichkeiten: ʿaql und naql annehmen; einen von beiden ablehnen, beide ablehnen.
ar-Rāzī fährt daraufhin fort, indem er die vierte Möglichkeit erörtert:
Wenn wir die Bedeutung der Schrift annehmen und unsere Vernunft negieren, dann ist dies auch eine Negierung der Schrift.
Er begründet dies so: Wir erkennen die Wahrheit der Schrift (naql) durch unsere Vernunft (ʿaql); wenn wir folglich ʿaql ablehnen und naql annehmen, dann ist dies gleichbedeutend damit, beide abzulehnen. Das ist ein ganz entscheidender Punkt für ar-Rāzī.
Wir erkennen, dass der Koran das Wort Allahs (kalām Allāh) ist, mittels unserer Vernunft (ʿaql). Wenn wir also unserem ʿaql folgen und sagen, dass der Koran kalām Allāh ist und dem Gesandten Allahs, rasūl Allāh, (hadīth) glauben, und dann feststellen, dass Koran und Hadith unserem ʿaql widersprechen, also sagen, dass wir naql annehmen und ʿaql daher nicht gültig sein kann, dann haben wir, indem wir ʿaql in diesem Fall ablehnen, die Reputation von ʿaql bei der vorausgehenden Annahme von naql beschädigt.
Das Vermögen der Vernunft wurde geschmälert und sein Wert ruiniert.
Woher wissen wir denn, dass naql wahr ist, wenn wir ʿaql hinsichtlich etwas anderem bezweifeln?
Die erste und dritte Alternative sind für ar-Rāzī logisch unmöglich. Die vierte wurde soeben widerlegt. Die zweite Alternative kommentiert er nicht näher, aber es ist klar, dass sie keine echte Möglichkeit darstellt, denn die Ablehnung der Offenbarung (naql) ist offensichtlich kufr, also gleichbedeutend mit der Ablehnung des Islam.
ar-Rāzī kommt angesichts der Unmöglichkeit der vier Alternativen zu dem Schluss, dass eine fünfte Alternative gefunden werden muss. Und diese lautet so:
Wir bestätigen ʿaql und glauben sodann, dass naql etwas anderes bedeutet, als es sagt, was es bedeutet, also als seine äußere Bedeutung.
Wir lehnen naql nicht ab, sondern nehmen es an und bringen es in Einklang mit ʿaql: Die Bedeutung von naql muss reinterpretiert werden in Übereinstimmung mit dem, was ʿaql sagt.
Wir können dies auf zwei Weisen tun:
1. Wir kümmern uns nicht um die tatsächliche Bedeutung und machen, was die Gelehrten tafwīdh nennen; tafwīdh bedeutet: Allah weiß, was dies bedeutet, aber wir wissen es nicht (z.B. alif lam mim etc.). Welche Bedeutung es auch immer haben mag, jedenfalls nicht seine wörtliche Bedeutung, um die wir uns nicht kümmern müssen (z.B. Allahs Namen und Attribute: istawā (Sitzen), dhahika (Lachen) etc.).
2. Wir nehmen eine Reinterpretation vor: taʾwīl; z.B. istawā (sitzen) wird umgedeutet. An die Stelle der äußeren Bedeutung »Allah sitzt auf dem Thron« tritt mittels Umdeutung (taʾwīl) die allegorische Bedeutung: Allah hat die Herrschaft über Himmel und Erde (d.h. die gesamte Schöpfung) inne (istawā wird damit gleichgesetzt mit istawla).
ar-Rāzī beschließt das Buch Asās mit den Worten:
Das ist al-qānūn al-kullī, die universelle Regel, die in allen unklaren Fällen bei einem Konflikt von ʿaql und naql angewendet wird.
ar-Rāzī propagiert diese Interpretationsregel, die er al-qānūn al-kullī nennt. Sie ist aber nicht seine Idee, sondern stammt ursprünglich von al-Ghazālī. ar-Rāzī hat sie neben etlichen anderen Dingen von al-Ghazālī übernommen.
al-Ghazālī hat ein Buch darüber geschrieben: al-Qānūn al-kullī fi at-taʾwīl. ar-Rāzī übernimmt daraus ganze Abschnitte.
al-Ghazālī stellt darin fest:
Wisse, dass, wenn ein rationaler Beweis etwas feststellt und ein textlicher Beweis in Widerspruch dazu steht, wir dem rationalen Beweis den Vorrang über den textlichen Beweis geben müssen.
Dieses Konzept einer Regel der Reinterpretation, des qānūn at-taʾwīl hat al-Ghazālī entwickelt und ar-Rāzī in seinem Asās von ihm übernommen. Die Abhandlung von al-Ghazālī ist nicht sehr bekannt, wohingegen Asās von ar-Rāzī überaus berühmt ist.
Das ist also der Grund oder Anlass, weshalb Ibn Taymiyya seinen Darʾ ta ʿārudh geschrieben hat.
1.2.3 Über Ibn Taymiyya und die atharitische Schule
Ibn Taymiyya stammt aus einer Familie hanbalitischer Gelehrter. Er wurde in der Stadt Harran (in der heutigen Türkei) geboren. Durch die Invasion der Mongolen waren seine Eltern zur Flucht gezwungen. Sie brachten Ibn Taymiyya daher nach Damaskus - einem der geistigen Zentren der damaligen muslimischen Welt.
Ibn Taymiyya wuchs in Damaskus auf und studierte dort. Sein Vater starb früh, und er übernahm von seinem Vater den Lehrstuhl in der Moschee im Alter von 18 oder 19 Jahren. Ibn Taymiyya wurde Lehrer der größten hanbalitischen Moschee in Damaskus. Er war vielseitig gebildet und meisterte alle Wissenschaften des Islam.
Ibn Taymiyya unterscheidet sich allerdings in entscheidender Hinsicht von allen früheren Hanbaliten. Denn er tat, was frühere Hanbaliten oder Atharis nie getan haben: Er las die Werke seiner Gegner.
Die früheren hanbalitischen Gelehrten waren in dieser Hinsicht sehr engstirnig. Sie weigerten sich, die Bücher der Philosophen, Griechen oder mutakallimūn zu lesen, da sie diese für unvereinbar mit ihrem Verständnis des Islam hielten und jeden Einfluss auf ihr Denken von vornherein vermeiden wollten.
Wenn man atharitische Bücher vor Ibn Taymiyya liest, stellt man fest, dass sie sich von seinen Büchern grundlegend unterscheiden. Sie sind sehr simplistisch. Sie bestehen größtenteils aus einer Aneinanderreihung von Zitaten aus Koran und Hadith. Es werden kaum Gedanken entwickelt. Man beschränkt sich auf die Feststellung: »Das ist, was Koran und Hadith sagen; das musst du glauben!«
Ibn Taymiyya widersetzte sich diesem Trend. Er studierte jede Philosophie und Ideologie, die es damals gab: tasawwuf (Sufismus), Philosophie, griechische Logik, Werke von Aristoteles usw. Dadurch erwarb er einen einmaligen Geist und Stil, den es bis dahin nicht gegeben hat und sogar nach ihm nicht mehr geben sollte.
Selbst diejenigen,