Über Vernunft und Offenbarung in Ibn Taymiyyas Denken. Yusuf Kuhn
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Über Vernunft und Offenbarung in Ibn Taymiyyas Denken - Yusuf Kuhn страница 5
Farid Suleiman weist darauf hin, dass Ibn Taymiyyas Schriften allerdings zunächst »in den Jahrhunderten nach seinem Tod weitgehend unbeachtet« blieben und fährt fort:
Ihre Wiederentdeckung nahm im 11./17. Jahrhundert ihren Anfang und wurde von muslimischen Gelehrten verschiedenster Ausrichtung vorangetrieben. Das Ausmaß seiner Rezeption hat sich seitdem kontinuierlich gesteigert, sodass man von einer gefühlten Omnipräsenz Ibn Taymiyyas im jüngeren sunnitischen Denken sprechen kann. Zu Recht identifiziert ihn daher Lutz Berger in seinem Einführungswerk über die islamische Theologie als den »heute sicher einflussreichste[n] aller islamischen Theologen des Mittelalters«.9 Trotz dieses Umstands hat man sich in der europäischsprachigen Forschung noch bis vor einigen Jahren – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nicht eingehend mit dem Leben und Werk Ibn Taymiyyas beschäftigt. Zudem haben ihn die dortigen Forschungsbeiträge, wie Birgit Krawietz kritisch bemerkt, überwiegend »als Gegner religiöser Toleranz und spekulativen Denkens, Proto-Fundamentalisten bzw. den oder einen der ersten islamischen Fundamentalisten, als gewaltbereiten Aktivisten, Gegner von Volksreligion und Synkretismus, Sufi-Kritiker, radikalen Anthropomorphisten, wenn nicht gar als Streithansel jedweder Art«10 porträtiert. Obgleich in den letzten Jahren fundierte Forschungsbeiträge u. a. von Yahya Michot, Jon Hoover und Ovamir Anjum zu dezidiert gegenteiligen Einschätzungen gelangt sind,11 besteht dieses Bild hartnäckig fort.12
Farid Suleimans ausgezeichnete Studie selbst reiht sich in die Reihe der Arbeiten ein, die dieses entstellende und geradezu karikierende Bild durch ein getreueres zu ersetzen bestrebt sind. Sie nimmt dabei allerdings eine Sonderstellung ein, da sie in deutscher Sprache verfasst ist und daher der deutschsprachigen Leserschaft ganz besonders zur Lektüre empfohlen sei. Sie räumt nicht nur mit vielen Vorurteilen und falschen Vorstellungen auf, sondern bietet eine scharfsinnige und tiefschürfende Darstellung von Ibn Taymiyyas Denken, die weit über das durch den Titel bezeichnete Thema hinausreicht, nämlich Ibn Taymiyyas Attributenlehre, die hier erstmals einer tiefergehenden Analyse unterzogen wird. Sie ist zudem nicht nur von his - torischem und insbesondere theologie- und philosophiegeschichtlichem Interesse, sondern auch ein wichtiger Beitrag zur Wiederbelebung des islamischen Denkens, dem fürwahr eine zeitgemäße Anknüpfung an seine eigene Tradition angelegen sein muss.
In deutscher Sprache liegen bisher kaum Arbeiten über Ibn Taymiyyas Denken vor. Farid Suleiman listet die »wichtigsten deutschsprachigen Veröffentlichungen, die Aspekte von Ibn Taymiyyas Denken behandeln« in einer Anmerkung auf, auf die hiermit verwiesen sei.13 Neben den oben erwähnten Werken von Yahya Michot, Jon Hoover und Ovamir Anjum gibt es, außerhalb der deutschen Sprache, in europäischen Sprachen seit einigen Jahren freilich eine ganze Reihe von sehr wertvollen Untersuchungen zu Ibn Taymiyyas Denken. Farid Suleiman gibt auch hiervon eine nützliche Aufstellung in einer Anmerkung, die übernommen sei; und zwar »wurden die europäischsprachigen Forschungsbeiträge zu Ibn Taymiyya überwiegend auf Englisch und Französisch verfasst,14 […].«15 Diese in der Anmerkung angeführte Liste ist noch um die jüngst erschienene Monographie von Jon Hoover mit dem Titel Ibn Taymiyya - Makers of the Muslim World zu ergänzen.16
Im vorliegenden Band 3 haben wir uns zur Aufgabe gesetzt, eine Auswahl aus der jüngeren englischsprachigen Literatur, die uns besonders wertvoll und wichtig erscheint, der deutschsprachigen Leserschaft vorzustellen. Die inhaltlichen Schwerpunkte, die dieser Auswahl zugrunde liegen, sind dabei vor allem durch die Themen Vernunft und Offenbarung sowie Kritik der Philosophie bestimmt, die sich weithin überschneiden und gegenseitig durchdringen. Die Auswahl fiel dabei auf die bereits genannten Autoren Yasir Qadhi, Carl Sharif El-Tobgui, Wael Hallaq und Yahya Michot sowie M. Sait Özervarli.
Das erste Kapitel mit dem Titel Versöhnung von Vernunft und Offenbarung in den Schriften von Ibn Taymiyya stützt sich auf einen Vortrag von Yasir Qadhi, in dem seine umfängliche Studie zu Ibn Taymiyyas großem Werk Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql (Vermeidung des Konflikts von Vernunft und Offenbarung) in großen Zügen vorstellt wird. Der Vortrag bietet somit nicht nur einen Einblick in eines der größten und bedeutendsten Werke von Ibn Taymiyya, sondern zugleich eine Einführung in einige grundlegende Fragen des islamischen Denkens, die um das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung kreisen. Nicht zuletzt wird es dabei auch immer wieder um Ibn Taymiyyas Kritik der Philosophie gehen. Dieser Text kann als knapper Einstieg in diese Thematik gute Dienste leisten, da er wichtiges Hintergrundwissen bereitstellt, einige Positionen von muslimischen Denkern darlegt und philosophische Themen von größter Bedeutung anspricht. Er hat dabei den Vorzug, uns mitten in die Problematik zu versetzen und doch zugleich in gewissem Sinne übersichtlich zu bleiben.
Das zweite Kapitel mit dem Titel Die koranische rationale Theologie von Ibn Taymiyya und seine Kritik der Mutakallimun beruht auf einem Artikel von M. Sait Özervarli, der sich nicht scheut, das Anliegen von Ibn Taymiyya, nämlich Vernunft und Offenbarung in ihrem Einklang aufzuzeigen, sogar mit der Überschrift des koranischen Rationalismus zu versehen. Dieser koranische Rationalismus sollte zugleich eine Alternative zum traditionellen kalām (islamische Theologie) bieten, der sich allzu einseitig auf eine noch dazu falsch verstandene Vernunft stützt. Denn Ibn Taymiyya erkannte eine Verbindung zwischen der geistigen Krise seiner Zeit und dem Denken, das im Kalam Gestalt annahm. Die Wurzeln dieser Krise verortete er in den philosophischen Tiefen des islamischen Denkens. Zur Überwindung dieser Krise, die eine Wiederbelebung des islamischen Denkens erforderte, war daher eine Doppelbewegung erforderlich: eine Besinnung auf die Grundlagen des Islam, auf Koran und Sunna, in Verbindung mit einer Anknüpfung an den aktuellen Stand des islamischen Denkens. Sollte die islamische Tradition wiederbelebt werden, so nicht in abstrakter, rückwärtsgewandter Gestalt, sondern konkret vermittelt mit dem zeitgenössischen Denken. Aus diesem Spannungsfeld heraus betrieb Ibn Taymiyya die Entwicklung eines Denkens, das, durch eine Kritik der Philosophie vermittelt, das islamische Denken wahrhaft erneuerte. Dieses Denken ist bis heute nicht wirklich verstanden worden, obgleich es mit seiner Verbindung von Vernunft und Offenbarung auch für unsere Gegenwart Maßstäbe setzen könnte und mithin äußerst lehrreich zu sein verspricht.
Das dritte Kapitel mit dem Titel Vernunft, Offenbarung und die Rekonstitution der Rationalität: Ibn Taymiyyas Darʾ taʿārudh ist nach den eher knappen ersten beiden Kapiteln, die als bündige Einführungen in die Thematik gelesen werden können, der mit Abstand längste Text des Bandes. Er stellt die ausführliche Untersuchung von Carl Sharif El-Tobgui vor, in der Ibn Taymiyyas vielbändiges Meisterwerk Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql unter der als roter Faden dienenden Fragestellung nach dem Verhältnis von Vernunft und Offenbarung in vielen Einzelheiten dargestellt wird. Ibn Taymiyyas Projekt, den Widerstreit von Vernunft und Offenbarung, der das islamische Denken seiner Zeit – und freilich weit darüber hinaus – zutiefst prägte, einer harmonischen Auflösung zuzuführen, tritt dadurch in viel schärferen Konturen hervor. Ibn Taymiyya weist in seiner grundsätzlichen Kritik der falsafa (Philosophie) und des kalām (Theologie) deren Bestreben, den vermeintlichen Widerspruch zwischen Vernunft und Offenbarung durch eine Überordnung der Vernunft zu lösen, entschieden zurück, indem er die Wurzeln des diesem Vorhaben zugrundeliegenden Begriffs der Vernunft in der griechischen Philosophie aufsucht und einer gründlichen Untersuchung unterzieht. Statt dabei, wie oftmals unterstellt wird, einem blinden Irrationalismus zu verfallen, zeigt Ibn Taymiyya ganz im Gegenteil den Mangel an Vernünftigkeit dieser vermeintlich überlegenen Rationalität auf und schickt sich an, eine rekonstituierte Rationalität an deren Stelle zu setzen. Und sein Bestreben ist schließlich auf den Nachweis gerichtet, dass diese erneuerte und erweiterte Vernunft mit der wahrhaften Offenbarung und den tiefsten Aspirationen des menschlichen Lebens in harmonischem Einklang steht. El-Tobgui bemüht sich dabei zudem um den Nachweis, dass sich die verschiedenen Aspekte in Ibn Taymiyyas Verständnis von Ontologie, Epistemologie und Sprachtheorie in einer Synthese zusammenfügen, die zwar einen Bruch mit der philosophischen Tradition bedeutet, aber nichtsdestoweniger den Titel einer Philosophie verdient, die durch das Feuer der philosophischen Kritik und Selbstkritik hindurchgegangen ist. Freilich mag es dafür erforderlich sein, die Landkarte der Philosophie um die bislang unerkannte oder auch