Über Vernunft und Offenbarung in Ibn Taymiyyas Denken. Yusuf Kuhn

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Über Vernunft und Offenbarung in Ibn Taymiyyas Denken - Yusuf Kuhn Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken

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Philosophie entwachsene islamische Philosophie, wie sie sich bis in seine Zeit herausgebildet hat, anknüpft. Das rechtfertigt, den dritten Band dieser Reihe dem Denken Ibn Taymiyyas zu widmen. Ibn Taymiyya hat uns ein vielschichtiges und reiches Werk vermacht, das in seiner gewaltigen Fülle mitunter unübersichtlich erscheinen mag. Da genügt es nicht, die Thematik auf die Kritik der Philosophie im islamischen Denken einzugrenzen, um einen Weg durch dieses klüftige Gelände zu bahnen. Es ist zudem erforderlich, das Augenmerk besonders auf das spannungsreiche Verhältnis von Vernunft und Offenbarung zu richten.

      Freilich ist dabei nicht zu vernachlässigen, dass die Kennzeichnung Ibn Taymiyyas als Philosoph einen weitaus paradoxaleren Einschlag hat als bei al-Ghazālī. Denn im Gegensatz zu al-Ghazālī, der etwa als philosophiekritischer Philosoph zu bezeichnen wäre, verdiente Ibn Taymiyya viel eher den Titel eines anti-philosophischen Philosophen oder gar eines philosophischen Anti-Philosophen. Die in diesem Paradoxon angelegten Spannungen gilt es auszuloten.

      Ein weiterer großer Unterschied zu al-Ghazālī zeigt sich zudem darin, dass diese Beschreibung für al-Ghazālī heutzutage, trotz aller Wechselfälle in der Vergangenheit, als meistenteils anerkannt gelten kann, während ihre Übertragung auf Ibn Taymiyya – bei aller Tendenz zur Einsicht, die sich allmählich abzuzeichnen beginnt – nach wie vor als weithin höchst umstritten gelten muss und gar auf mancherlei Verwunderung stoßen dürfte. Dazu, dem Abhilfe zu schaffen, möchte dieser Band einen Beitrag leisten. Damit knüpft er an eine Sammlung von Texten Ibn Taymiyyas an, die wir vor einiger Zeit herausgebracht haben und aus deren Vorwort der folgende Abschnitt übernommen sei, der auch an dieser Stelle seine volle Berechtigung besitzt.

      »Ibn Taymiyya – ein Name, der in aller Munde ist. An allen möglichen und unmöglichen Orten taucht er auf. Die einen rechtfertigen ihre Taten damit, während die anderen die Untaten derjenigen, die sie in seinem Namen begehen, erklären. Islamisten, Salafisten, Extremisten, Terroristen, Orientalisten, Islamexperten, Extremismusforscher und andere Terrorspezialisten – ein buntes Völkchen also bedient sich seiner und bestätigt sich gegenseitig. Dieser Diskurs erzeugt Heilige und Monster – oder besser: heilige Monster.

      Was aber wissen sie wirklich über und von diesem großen Gelehrten und Denker, der Ibn Taymiyya ist? Welcher böse Traum gebiert diese Ungeheuer? Wer hat je etwas – mögen es auch nur kleine Texte sein, von einem Autor, der zehntausende Seiten und dutzende Bücher mit seiner Feder füllte – von ihm gelesen?

      Wir wollen dem freilich keine Heiligenverehrung entgegensetzen, die Ibn Taymiyya selbst ohnehin verhasst gewesen wäre, der zweifelsohne sich und jeden anderen für fehlbar und nur allzumenschlich hielt. Nein, wir meinen nur, dass Urteile, positive wie negative, über einen Menschen und seine Gedanken nicht lediglich von Vorurteilen, sondern von einer gewissen Kenntnis getragen sein sollten. Dieser Aufgabe also soll unser bescheidener Beitrag einer kleinen Textsammlung dienen: Vorurteile abbauen und Kenntnisse vermitteln, um allererst sachgemäße und vernünftige Urteile zu ermöglichen, sowie den Diskurs versachlichen.

      Damit soll kein Urteil vorgegeben oder gar aufgenötigt werden, sondern lediglich die Voraussetzungen für die Möglichkeit einer selbständigen Urteilsbildung erst geschaffen werden. Wir wollen mit unserer Ansicht aber auch nicht hinter dem Berg halten. Freilich hätten wir dieses Projekt nicht in Angriff genommen, wären wir nicht davon überzeugt und hätte uns nicht die Lektüre der Texte selbst davon überzeugt, dass der allseits betriebene Diskurs, an dessen ungeheuerlichem Bilderstrom sich alle nähren, mehr auf Phantasmen, Gespenstern und Konstrukten basiert, denn auf Wissen, Einsicht und echter Wahrnehmung. Wie? Ibn Taymiyya kein heiliges Monster? Gar mit Vernunft begabt und dieser das Wort redend? Und gleichwohl einträchtig der Offenbarung folgend? Wie geht das zu? Möge in dieser Textsammlung – und das heißt: Ibn Taymiyyas Worte selbst – lesen, wer sich davon prüfend überzeugen oder zumindest ein redliches Urteil bilden möchte.

      Dabei sollte sich von selbst verstehen: Diese Texte müssen unter Berücksichtigung ihres historischen und sozialen Kontextes gelesen und verstanden werden. Ibn Taymiyya selbst hätte sicherlich alle Versuche verwehrt, seine Überlegungen mit dem Glorienschein zeitloser Gültigkeit zu versehen. Denn es war ihm stets sehr daran gelegen, den jeweiligen konkreten Umständen und Bedingungen gerecht zu werden und die gebührende Beachtung widerfahren zu lassen. Diesem Verständnis liefe freilich eine umstandslose Übertragung auf anders geartete Gegebenheiten und Verhältnisse grundsätzlich zuwider.«6

      Zu Leben und Person Ibn Taymiyyas müssen wir uns an dieser Stelle auf einige Andeutungen beschränken, die gleichfalls der eben erwähnten Textsammlung entnommen sind. Für weitere Einzelheiten sei auf die hervorragende Darstellung von Ibn Taymiyyas Leben in dem kürzlich erschienenen Buch Ibn Taymiyya und die Attribute Gottes von Farid Suleiman verwiesen, das den aktuellen Kenntnisstand berücksichtigt und zudem zahlreiche weiterführende Literaturhinweise enthält.7

      »Taqī ad-Dīn Ahmad Ibn Taymiyya wurde 1263 in eine hanbalitisch geprägte Gelehrtenfamilie geboren. Seine Geburtsstadt Harrān liegt im Südosten der heutigen Türkei und gehörte damals zum Mamlukenreich (1250–1517). Wegen der mongolischen Invasionen war seine Familie 1269 zur Flucht gezwungen. Sie ließ sich in Damaskus nieder, das eines der geistigen Zentren der damaligen muslimischen Welt war. Ibn Taymiyya wuchs in Damaskus auf und studierte dort. Sein Vater starb früh, und Ibn Taymiyya übernahm im Alter von 18 oder 19 Jahren von seinem Vater den Lehrstuhl in der größten hanbalitischen Moschee in Damaskus. Ibn Taymiyya war vielseitig gebildet und meisterte alle Wissenschaften des Islam.

      Ibn Taymiyya unterscheidet sich in entscheidender Hinsicht von allen früheren hanbalitischen Gelehrten. Denn er tat, was diese nie getan haben: Er las die Werke seiner Gegner. Er studierte jede Philosophie und Ideologie, die es damals gab: kalām (Theologie), tasawwuf (Sufismus), falsafa (Philosophie), griechische Logik, Werke des Aristoteles usw. Dadurch erwarb er einen einmaligen Geist und Stil, den es bis dahin nicht gegeben hat. Und darauf gründete er sein originelles Denken mit seinem ganzen Reichtum und seiner tief verwobenen Vielschichtigkeit, das sich zugleich immer wieder auf die wahren Grundlagen des Islam – Koran und Sunna – besann. Von da aus unterzog er alle Denkweisen und Philosophien einer strengen, oftmals als polemisch empfundenen, aber meist argumentativen Kritik, die sich keineswegs Vernunft und Rationalität entzog oder widersetzte. Ganz im Gegenteil, denn es war ihm dabei stets und mit unermüdlicher Leidenschaft darum zu tun, den Einklang von Vernunft und Offenbarung im islamischen Denken aufzuzeigen. Seine Kritik richtete sich vor allem gegen die falāsifa (Philosophen) wie Ibn Sīnā und die philosophierenden mutasawwifa (Sufis) wie Ibn al-ʿArabī, sparte aber keineswegs den aschʿaritischen kalām aus, denen er allesamt ein ungenügendes Verständnis der harmonischen Beziehung zwischen Vernunft und Offenbarung vorhielt, das zur einseitigen und mitunter extremen Betonung des einen oder anderen Pols führte.

      Ibn Taymiyya war stets ein entschiedener Unterstützer des mamlukischen Sultanats in Ägypten und Syrien, insbesondere im Widerstand gegen die wiederholten Einfälle der Mongolen nach Syrien in den Jahren 1299-1303. Doch sein unabhängiges Denken und Wirken brachte indes zuweilen die etablierte Gemeinschaft der Gelehrten und die politischen Herrscher gegen ihn auf. Dies trug ihm mehrere öffentliche Prozesse, Gefängnisstrafen und ein siebenjähriges Exil in Ägypten (1306-1313) ein. Auch nach seiner Rückkehr nach Damaskus kam es aufgrund seiner Ansichten zu Fragen der Scheidung und der Heiligenverehrung wiederholt zu Konflikten mit den herrschenden Autoritäten. Infolgedessen wurde er 1326 in der Zitadelle von Damaskus in Haft genommen. Der Aufenthalt im Gefängnis hatte ihn nicht davon abgehalten, seiner Schreibtätigkeit unablässig nachzugehen. Doch nun verstarb er 1328 in der Zitadelle von Damaskus, nachdem man ihn, der einen großen Teil seines Lebens damit zugebracht hatte, seine Gedanken auf Abertausenden von Seiten zu Papier zu bringen, seiner Feder und anderer Schreibwerkzeuge beraubt hatte.

      Ibn Taymiyya war einer der größten, scharfsinnigsten und produktivsten muslimischen Gelehrten in der Geschichte des islamischen Denkens. Seine Wirkung in all ihren Verästelungen ist so umfangreich und gewaltig, dass sie schier unermesslich erscheint und kaum zu überschätzen

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