Gekaufte Wissenschaft. Christian Kreiß

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Gekaufte Wissenschaft - Christian Kreiß

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      Ein Blick in die Tabakindustrie, deren Wissenschaftsskandale wirtschaftshistorisch gut aufgearbeitet sind, zeigt, wie sich Industrieforschung selbst pervertieren kann und wie Übergriffe der Tabakindustrie in das Bildungssystem Hunderttausende von Toten hervorrufen. Die Geschichte der Tabakindustrie zeigt beeindruckend, dass die Maxime „Gewinn geht vor Wahrheit“ den Kerngedanken von Wissenschaft, die Wahrheitsfindung, nicht nur missbraucht, sondern geradezu zerstört und damit in enormem Ausmaß gesellschaftliche Schäden, Krankheit und Tod herbeiführt.1

      Jahrzehntelang haben heimlich von der Tabakindustrie finanzierte Wissenschaftler an staatlichen Hochschulen systematisch Manipulationen wissenschaftlicher Ergebnisse vorgenommen. Die Ergebnisse wurden jedoch im Namen unabhängiger Wissenschaftler an unabhängigen staatlichen Hochschulen verkündet, um die Glaubwürdigkeit der Studien sicherzustellen. Dadurch konnte der Anschein erweckt werden, dass Rauchen und Passivrauchen kaum gesundheitsschädlich seien. In der öffentlichen Meinung und bei Politikern wurde so der Eindruck erweckt, dass kein dringender politischer Handlungsbedarf zum Schutz von Rauchern und Nicht- bzw. Passivrauchern bestehe. Die Verzögerungstaktik funktionierte. Jahrzehntelang konnten Rauchverbote, -einschränkungen und -verteuerungen verhindert werden. Das hatte enorme Gesundheitsschäden für dutzende Millionen von Rauchern und hunderte Millionen von Nicht- bzw. Passivrauchern zur Folge.

      Kurz: Einseitig (gewinn-)interessengeleitete Industrieforschung, die keinen „Checks and Balances“ unterworfen wird, der keine ausgleichenden Gegenkräfte gegenüberstehen, kann sich leicht zum Schaden von uns allen entwickeln. Und wir sind schon längt in einer Forschungssituation, wo politisch und ökonomisch kein Gleichgewicht der Kräfte mehr vorliegt, sondern extreme Einseitigkeit herrscht, die noch dazu ständig zunimmt. Daher ist das Plädoyer dieses Buches nicht, Industrieforschung zu verteufeln. Im Gegenteil. Industrieforschung, richtig gehandhabt und in die richtigen gesellschaftlichen Bahnen gebracht, ist essentiell wichtig für unseren Wohlstand und für unsere Freiheit.

       Die „General Motors Streetcar Conspiracy“ (Die Straßenbahnverschwörung von General Motors)

      Es gibt ein beeindruckendes wirtschaftsgeschichtliches Beispiel, das sehr gut zeigt, was passiert, wenn Industrieinteressen sich einseitig durchsetzen, ohne Checks and Balances, ohne ein gesellschaftliches Gegengewicht: die so genannte „General Motors Streetcar Conspiracy“, die Straßenbahn-Verschwörung von etwa 1927 bis 1950.2 Unter der Führung von Alfred P. Sloan, dem Chef von General Motors, taten sich mehrere Konzerne, die alle Interesse am Verkauf von Autos hatten, zusammen. Sie kauften systematisch Straßenbahnen auf und – legten sie still. So wurden in 45 US-Großstädten etwa 100 elektrisch betriebene Straßenbahnsysteme stillgelegt. Noch 1920 wurden in den USA 90 Prozent aller Wege mit Schienenverkehrsmitteln zurückgelegt. Es gab 70.000 Gleiskilometer, auf denen von etwa 1200 meist privaten Bahnsystemen pro Jahr mehr als 15 Milliarden Passagiere transportiert wurden. Beispielsweise hatte Los Angeles in den 1920er Jahren mit rund 2000 Kilometern das größte Straßenbahnnetz der Welt. Heute nicht mehr. Das autofreundliche Kartell hat maßgeblich die Weichen zu Gunsten des Autoverkehrs und gegen den öffentlichen Verkehr gestellt – und damit die Konzerngewinne nachhaltig erhöht.

      Die schädlichen Umweltwirkungen dieser konzerngelenkten Verkehrspolitik sind bis heute ungeheuer, die CO2-Bilanz ein Desaster. Mit Blick auf die heutigen Autoströme in den USA dürfte es einer der größten Umweltskandale der Menschheitsgeschichte und Alfred Pritchard Sloan (23. Mai 1875 - 27. Februar 1966) einer der größten Umweltverbrecher der Menschheitsgeschichte sein. Am Rande sei erwähnt, dass er auch als Erfinder oder maßgeblicher Treiber von geplanter Obsoleszenz gilt, die für Mensch und Umwelt ebenfalls verheerende Folgen hat.3

      Das Ganze hat deshalb so atemberaubend gut funktioniert, weil die Regierungen bzw. überhaupt die Öffentlichkeit taten- und machtlos zugeschaut haben. Nicht einmal hinterher gab es nennenswerte Strafen oder Sanktionen. Das juristische und politische Signal war daher letztlich: Macht nur, Konzerne, holt raus, was geht, bereichert euch zu Lasten der Allgemeinheit! (Die Tabakindustrie hat das Signal gut verstanden). Die öffentliche Hand und die öffentliche Meinung haben tief und fest geschlafen. Es gab kein Gegengewicht, keine Checks and Balances whatsoever. Wir lernen daraus, dass das Interesse von gewinnmaximierenden Großkonzernen den Interessen der Allgemeinheit, der Umwelt und der Menschlichkeit diametral widersprechen kann und sollten daher grundsätzlich aufpassen und prüfen, ob und in welchem Ausmaß wir Einfluss der Großkonzerne auf gesellschaftliche und politische Entscheidungen haben wollen. Wir sollten nicht schlafen, was diese Entwicklungen betrifft. Das Aufwachen könnte dann sehr schmerzvoll und teuer werden. Dieses Buch soll aufwecken. Und sensibilisieren.

      1 Vgl. Kreiß 2015, Gekaufte Forschung, S.22ff.

      2 Vgl. zum Folgenden „Die Welt“ vom 16.12.2015 https://www.welt.de/geschichte/article150014809/Gegen-diesen-Skandal-ist-VWs-Dieselgate-ein-Klacks.html vgl. auch wikipedia: https://en.wikipedia.org/wiki/General_Motors_streetcar_conspiracy

      3 Vgl. Kreiß 2014, Geplanter Verschleiß und https://en.wikipedia.org/wiki/Alfred_P._Sloan Stand 19.5.2020

       Das Grundschema oder die Sechs-Schritte-Strategie ins Verderben

      Die Tabakindustrie lieferte die Blaupause, wie man am besten vorgeht, um Wissenschaft systematisch zu kaufen und zu missbrauchen. Es sind sechs gut dokumentierte Schritte, um besonders erfolgreich zu sein:

      1. Auswahl besonders vielversprechender, industrienaher (Nachwuchs-) Wissenschaftler: Suche Dir industrienahe Wissenschaftler, die die Weltanschauung der Konzerne teilen. Die gibt es immer. Bei Wissenschaftlern sind oft Ruf, Ansehen und Ehrgeiz oder Eitelkeit viel wichtiger als Geld und Macht. Wissenschaftler sind daher oft nicht besonders teuer.

      2. Fördern der besonders industrienahen Forscher: Erhöhe die Bedeutung der handverlesenen Wissenschaftler durch großzügige Finanzierung ihrer Institute, fördere Kongressbesuche und unterstütze ihre Publikationen. Fördere ihre wissenschaftliche Reputation, so dass sie Meinungsführer werden.

      3. Maximale Intransparenz herstellen und/oder Geheimhalten der Verbindungen zur Industrie: Möglichst wenig Worte über die Verbindungen dieser Wissenschaftler zur Industrie verlieren, um nicht ihre Glaubwürdigkeit zu schwächen. In der Regel ist aber selbst dann, wenn es herauskommt, der Imageschaden minimal. Zu jedem Argument findet sich ein Gegenargument.

      4. Gewünschte Ergebnisse sicherstellen: Über Manipulation und Datenmassage in Form von geeigneter Datenauswahl geht fast alles. Ergebnisse nur dann fälschen, wenn es gar nicht anders geht. Der Imageschaden bei offenen Fälschungen ist normalerweise minimal. Kunden und die Öffentlichkeit haben ein kurzes Gedächtnis. Keine Sorge vor PR-Schaden.

      5. Confounder einführen und Fehlfährten legen: Versuche mit möglichst vielen Studien vom springenden Punkt abzulenken und die Diskussion auf Nebenaspekte hinzuführen. Man nennt das „Confounder“ bzw. Verwirrfaktoren einführen. Funktioniert praktisch immer.

      6. Verzögern politischer Gegenmaßnahmen. Paralyse durch Analyse: Sorge für Gegenstudien, die Konfusion erzeugen und sage, die Wissenschaft ist sich noch nicht einig, es ist alles noch in der Diskussion und wir brauchen noch viel zusätzliche Forschung, bevor politische Entscheidungen über rechtliche Rahmenbedingungen getroffen werden können. Spiele auf Zeit. Man nennt das Verzögerungstaktik oder Paralyse durch Analyse.

      Diese Sechs-Schritte-Strategie funktioniert erstaunlich gut. Fast alle Industriebranchen haben die Strategie schon vielfach angewandt. Sie funktioniert eigentlich immer. Ein Blick in die Industriebranchen heute zeigt: Die Strategie wird ganz oder teilweise praktisch überall und ständig angewandt: Big Food, Big Soda, Zuckerindustrie, Banken, Versicherungen, Pharmaindustrie, Chemieindustrie, Öl, Energie, Flugindustrie, Dieselskandal, Gesundheit, Kosmetik, Alkohol, Internet, Facebook, Amazon usw. usw. Bei genauerer Betrachtung

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