In zwangloser Gesellschaft. Leonhard Hieronymi

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In zwangloser Gesellschaft - Leonhard Hieronymi

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zuvor im Internet gelesen hatte: Vor mehr als dreißig Jahren hatte man nämlich das Grab von Schopenhauer geöffnet und, ohne mit der Wimper zu zucken, den (zu diesem Zeitpunkt bereits ehemaligen) Präsidenten der Schopenhauer-Gesellschaft, Arthur Hübscher, einfach mit zu Schopenhauer ins Grab gelegt. »Der Tod hat sie endlich vereint«, hieß es in einer Grabrede, dabei kannten sich die beiden überhaupt nicht. Einen Interpreten zusammen mit dem Verfasser der zu interpretierenden Objekte zu begraben, das kommt schon einer Grabschändung gleich. Gerade Schopenhauer sollte man lieber in Ruhe lassen, schließlich handelt es sich bei ihm um den Mann, der gesagt hat, dass die sogenannten Menschen »fast durchgängig nichts anderes sind als Wassersuppen mit etwas Arsenik«. Schopenhauer hätte es allerdings wie Shakespeare machen sollen, auf dessen Grabplatte ein Fluch graviert ist: »Gesegnet sei der Mann, der schonet diese Steine, und jeder sei verflucht, der stört meine Gebeine.« Bis heute hat sich niemand an die Innereien seines Grabes getraut.

      Zum Glück hielt Schopenhauer die Lehre von der Seelenwanderung nur für eine populäre Form der Lehre des Willens zum Leben – und deshalb auch selbst nichts von Unsterblichkeit. Also konnte es ihm im Grunde genommen egal sein, mit wem er dort nun begraben liegt.

      Aber es ist fraglich, wem das Grab Schopenhauers gehört. Wenn damals die Familie schon verschwunden war und sich die Stadt Frankfurt mit der Schopenhauer-Gesellschaft zusammentat, wer könnte dann die mit Hunderten kulturbürokratischen Verträgen abgesicherte (und dadurch als selbstverständlich betrachtete) Grabschändung noch zurücknehmen?

      Ich drehte mich um und zuckte zusammen, mein Bruder stand wie ein Geist neben mir. Auch er hatte Gernhardt noch nicht gefunden.

      Wir stellten uns in einer kleinen Holzhütte unter, wo ein junger Gärtner mit Hörgerät auf seinem Bewässerungswagen saß. Von Gernhardt hatte dieser noch nie etwas gehört. Wir sagten ihm die Nummer, da runzelte er kurz mit der Stirn.

      »Das ist da hinten, hinter den Schwestern.«

      »Hinter den Schwestern?«

      »Ja genau.«

      »Okay …«

      Wir wussten natürlich nicht, wer die Schwestern waren, konnten es uns aber denken.

      »Regnet es eigentlich stark?«, fragte er.

      »Es geht. Nein, eigentlich nicht mehr …«

      Wir gingen in die Richtung, die er uns angezeigt hatte, aber auch da, »hinter den Schwestern«, konnten wir den Grabstein nicht finden. Wir gingen weiter ziellos umher und schritten die Reihen ab. Es hörte langsam auf zu regnen, die Schwüle kam zurück. Mein Bruder schaute immer wieder auf die Uhr, weil irgendein Treffen mit irgendeiner Frau näher rückte. Ich machte mir schon ein schlechtes Gewissen, aber da sahen wir es plötzlich.

      Es bestand aus einer kleinen nach oben hin abbrechenden und von Efeu umschlungenen Säule toskanischer Ordnung. Auf der Säule standen nur sein Name, das Geburts- und Todesdatum, der Name seiner ersten Frau Almut und die Namen Chia und Bella, den Haustieren.

      »Wie war das damals, auf Gernhardts Beerdigung?«, wollte ich später in einer E-Mail vom ehemaligen Chefredakteur und heutigen Herausgeber des von Gernhardt mitgegründeten Titanic-Magazins, Hans Zippert, wissen. »Gab es irgendwelche Erscheinungen? Irgendwelche Seltsamkeiten?«

      Er antwortete prompt.

      »Ich kann mich nicht erinnern, ich war nämlich nicht dabei. Nur als Chlodwig Poth zu Grabe getragen wurde, hörte ich schon von weitem jemanden heftig schluchzen, und irgendwann saß da schließlich auf einer Bank der von heftigen Weinkrämpfen geschüttelte Wilhelm Genazino, der entweder aufgrund seiner Beleibtheit nicht in der Lage war, sich an einen dezenteren Ort zurückzuziehen, oder aber seine lautstarke Trauer öffentlich ausstellen wollte. Es war bizarr und anrührend zugleich.«

      Alle waren kurz hintereinander gestorben. Erst Bernd Pfarr, zwei Tage später Chlodwig Poth, ein Jahr nach ihnen F.K. Waechter, dann Gernhardt. Mit einem Rundumschlag hatte die Frankfurter Satirikerszene Mitte der Nullerjahre einen Großteil ihrer Mitglieder an den Totengott Mors verloren.

      Tot also waren diejenigen Autoren und Zeichner, deren ernstgemeinte Aufgabe es war, irgendwann und trotz der bei der Kritik verpönten komischen Literatur als Klassiker zu gelten – und die diese Aufgabe unweigerlich durch ihre relativ frühen Tode auch erfüllt hatten.

      Vor seinem Tod bekam Gernhardt viel Krankenbesuch. Eckhard Henscheid wollte sich von seinem langjährigen Freund verabschieden, sie unterhielten sich, und Gernhardt erklärte Henscheid, er habe ein »schönes Leben geführt und keinen Grund zur Klage«, was Eckhard Henscheid wunderte, »angesichts der richtig bösartig fatalitätsmäßigen Abfolge von Gattinnenkrankheit und -tod, Schlaflosigkeit, Verlegermalaisen mit erheblichen Geldverlusten, Herzinfarkt und schließlich Krebs«. Für Henscheid eine »eindrückliche«, eine wie ihm schien »sehr gottgefällige Gesinnung«.

      Oliver Maria Schmitt, aus der zweiten Generation der Neuen Frankfurter Schule, fragt sich in seinem fünf Jahre vor Gernhardts Tod erschienenen Buch Die schärfsten Kritiker der Elche, »warum aber ausgerechnet dieser so ganz unschöpferisch und unhypertonisch, vielmehr gelassen und cool wirkende Herr, der nie ein aggressiver oder polemisch-schimpfender Satiriker war, eher ein spottender und selbstbewußt Verlachender, nie ein vom Furor Getriebener, immer ein Betreibender – warum ausgerechnet der vom fiesen kleinen Herzkasperle heimgesucht wurde.« Ihm ist dann aber auch klar, dass »dies ew’ge Rätsel« sich in allen fortregt und dass außer Gernhardt wohl aus diesem Leid kaum jemand so viel gemacht hätte.

      Wenige Tage vor Henscheid war schon Benjamin von Stuckrad-Barre bei Gernhardt. Barre wohnte zu dem Zeitpunkt gerade bei seinem Bruder in Frankfurt, um seine Kokainsucht zu bekämpfen – und er fuhr mit dem Fahrrad zu Gernhardt nach Hause, um diese letzte Begegnung für den Spiegel aufzuschreiben.

      Sie sprachen bei Cappuccino und Kuchen über mögliche Grabsteininschriften, und Barre schlug als Vorlage die von Karl Kraus auf dem Wiener Zentralfriedhof vor – ein Grab, auf dem nichts steht außer Karl Kraus. Sei eine gute Idee, meinte Gerhardt dann, besser, als wenn da ein Hesse-Spruch draufkäme. Dann betrachteten sie Gernhardts knapp zweihundert Skizzen- und Notizhefte von Brunnen, die in einem Magazinschrank lagen und die er selbst als die Summe seines Werks bezeichnete. Er hat sie dem Literaturarchiv in Marbach verkauft, mit den Worten: »So was bekommt ihr nicht mehr wieder, dieses Doppeltalent.«

      Zweieinhalb Wochen nach Barres Besuch, während des Lärms, der Autokorsos, während alle hupten und feierten, starb Robert Gernhardt. Und Barre, der an jenem Abend noch einmal mit dem Fahrrad an Gernhardts Haus vorbeifuhr, dachte: Vielleicht hupen sie ja nicht nur für den Fußball, sondern auch für ihn!

      Mir gegenüber stand mein Bruder, er fotografierte mich. Ich trug ein Hawaiihemd und ließ die Schultern hängen. Ich war kein Grabräuber und kein Spiritist und gab mich an diesem Ort auch keinen äußerlich sichtbaren Ritualen hin – ich legte keine Blumen auf das Grab, beschwor keine Geister und zitierte auch keine Gedichte. Als ich an die Seele des menschlichen Körpers dachte, an Ektoplasma und Energie, da wurde mir schnell klar, dass Robert Gernhardt sicherlich schon lange nicht mehr hier gewesen war, an einem Ort, der für ihn schließlich das Ende der Welt bedeuten musste.

      Unsterblich war er ja jetzt. Obwohl er auch gesagt hat: »Was nützen mir Buch / und Unsterblichkeitsscheiß / Wenn Marina nichts davon weiß?«

      Marina war seine Friseurin.

      Trotzdem wird Gernhardt nie verschwinden. Höchstens werden die Anekdoten baden gehen, zum Beispiel die, wie Gernhardt mal in feuerroten Hosen vom Dreimeterbrett im

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