In zwangloser Gesellschaft. Leonhard Hieronymi
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу In zwangloser Gesellschaft - Leonhard Hieronymi страница 6
Zwischen den Gräbern und im Unterholz der Gruften und Laubtunnel war es schattig, und nur die ausufernden Straßen und Alleen, auf denen die Autos und Busse fuhren, lagen im Licht. An diesem Mittwochnachmittag sah ich anfangs, bis auf die Radfahrer, nur wenige Besucher. Man muss sich an den Friedhof in Ohlsdorf genauso gewöhnen wie an das Betreten einer lichtdurchfluteten Straße nach stundenlangem Stubengehocke. Erst nach und nach fielen mir verdächtige Statuen und Sprüche auf, erst da sah ich auch aus der Erde gerissene Holzkreuze mit Abdrücken von Lippenstift, entdeckte versteckte Champagnerflaschen und verlorene Einkaufszettel. Anfangs jedoch war ich geblendet von der Gewaltigkeit und dem Platz zwischen den Grabsteinen – und lief auch fast an dem von Willemsen vorbei, der eigentlich nicht zu übersehen war.
Der beliebte Schriftsteller war mir ziemlich fremd, allerdings konnte ich mir an seinem Grab sicher sein, dass dort das Verschwinden noch nicht so weit fortgeschritten war. Er war der Antipol zu den beinahe (oder schon gänzlich) verschwundenen Körpern, Gräbern und Erinnerungen anderer verstorbener Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die ich im Laufe der Reise noch besuchen wollte.
Der Grabstein war erst knapp ein Jahr alt, daneben eine vom afghanischen Frauenverein gestiftete Bank. Ich dachte an Willemsens Tod, der ihn im Alter von sechzig ereilte, und daran, dass man eigentlich sterben konnte, wann man wollte, es war egal, denn laut Medien ging man immer »zu früh«, man konnte die achtzig überschreiten, aber auch das war heute »zu früh«. Und eigentlich war das nur ein Verehrung heuchelnder Vorwurf an die Toten: »Zu früh! Viel zu früh!« – als hätte man eine Wahl.
In Mandalay, in Burma, im Schatten einer Buddhafigur erklärte ein Wahrsager Willemsen mal: »Älter als achtzig werden? Nein, das ist leider unmöglich für Sie.« Und Willemsen dachte: »Leider. Zum ersten Mal in meinem Leben möchte ich einundachtzig Jahre alt werden. Doch während ich noch mit meiner Lebenserwartung hadere, tunkt der Erleuchtete eine bittere erdbeerförmige Frucht in Salz, und seine Augen sagen: Heul doch!«
Etwa ein halbes Jahr später würde mir mein Freund Joshua, der einen Monat in der Villa Willemsen in Reinbek zu Gast war, vom Sterbezimmer des Autors berichten:
»Da war nichts, das Zimmer wurde quasi entkernt. Irgendwie will man nicht, dass da ein Kult entsteht.«
Mit dem Gedanken spielend, es selbst zu besichtigen und irgendwelche parapsychologischen Verbindungslinien zwischen Todesort und letzter Ruhestätte zu ziehen, erinnerte ich mich an das Haus meiner Großeltern, das meine Mutter und ihre Schwestern nach deren Tod an eine fünfköpfige Familie vermietet hatten.
Irgendwann, in einem Frühling, überkam die drei Frauen eine verständliche Sehnsucht nach ihrem alten Zuhause, also riefen sie die neue Mieterin an, die gegen einen Rundgang durch das renovierte Haus nichts einzuwenden hatte – und weil auch ich mich gut an den ursprünglichen Zustand des Hauses erinnern konnte, begleitete ich sie.
Als wir später zusammen im früheren Büro meines Großvaters standen, das irgendwann zum Schlaf- und Sterbezimmer umfunktioniert worden war, überrollte meine Mutter die Mieterin gedankenlos mit den Worten: »Das ist jetzt das Schlafzimmer?! Hier sind unsere Eltern gestorben!«
Meine Mutter, bis heute diesen Umständen ignorierend gegenüberstehend, würde niemals die blauen Flecken vergessen, die ihre Schwestern und ich (aus Mangel an anderen sie zum Schweigen bringenden Möglichkeiten) danach auf ihrer Schulter hinterließen und die dadurch, dass meine Mutter von Natur aus wenige Thrombozyten besitzt, auch sofort anfingen, dunkelblau zu leuchten.
Dabei hatte meine Mutter recht, es ist doch beinahe unmöglich, in einer Großstadt in eine alte Wohnung oder ein altes Haus zu ziehen, in dem noch niemand ums Leben gekommen ist. So normal wie die lebendige Mieterin selbst (deren Blick ich niemals vergessen werde). Und Verbindungslinien ins Jenseits suchte man auch im Haus meiner Großeltern, so wie in dem Willemsens, vergeblich.
Wenig später – ich stand in Schmetterlingsblüten und wischte mir den Schweiß von der Stirn – sah ich einen kleinen Grabstein, von dem ich zuerst glaubte, es sei der des Schriftstellers und Kritikers Alfred Kerr, zumindest lag er in ähnlicher Position im Quadranten Z21, aber er war es nicht, es war der Grabstein einer Frau namens Waldtraut Pukall-White – »Schriftstellerin«.
Steine mit Berufsbezeichnungen waren nicht selten. Pukall-White lag dort alleine, wie Willemsen, und wann sie gestorben war, wollte man dem Besucher verheimlichen. Und später, als ich ihren Namen im Internet nachschlug, ergab er keinen einzigen Treffer, also war sie auch dort nicht mehr lebendig und für immer vergessen.
Ich ging weiter, immer weiter, durch Schatten und Licht und die Mischung aus Schatten und Licht. Aus dem Eingang einer von Bäumen überdachten Familiengruft schaute mir ein Feldhase entgegen. Ich kam endlich am Grab von Alfred Kerr vorbei, der gesagt hatte: »Man stirbt einen Tod und weiß nicht welchen, vielleicht ein schmuckes Schlaganfällchen.« Ich fragte mich, ob nicht das eigentlich der perfekte Spruch für einen Grabstein war.
Zum Ausruhen setzte ich mich an die Bushaltestelle »Nordteich«, auf meiner Liste hatten sich verschiedene prominente oder halbprominente, aber immer schreibende Hamburgerinnen und Hamburger versammelt: Hertha Borchert und ihr Sohn Wolfgang, die Schriftstellerin Marie Hirsch, der Schlagertexte schreibende Boxpromoter Walter Rothenburg und die Prinzessin Salme von Oman und Sansibar.
Gegenüber der Haltestelle bog ich nach der Hitzepause in einen von Tannennadeln bis an die Ränder gefüllten Weg ab, der neben einem düsteren Tümpel lag, wo ich den unter dem Namen »Seeteufel« bekannten Graf Luckner suchen wollte. Aber auch nach kleinlicher Untersuchung des Quadranten konnte ich ihn nicht finden. Wahrscheinlich war er dem Vergessen anheimgegeben worden, schließlich hatte er, neben seinen Seeabenteuern, die er unter den Titeln Seeteufel erobert Amerika oder Seeteufels Weltfahrt veröffentlichte, auch minderjährige Frauen missbraucht, darunter seine eigene Tochter.
Und obwohl die Sonne schien und ich von dem Dickicht, in dem der Seeteufel hätte liegen müssen, auf die große Norderstraße abgebogen war, bekam ich eine Gänsehaut bei dem Gedanken an die Verbrechen, die alle anderthalb Millionen Toten auf diesem Friedhof zusammengerechnet ausgeführt haben mussten.
Beinahe ohne Absicht entdeckte ich nur kurze Zeit später den Grabstein Harry Rowohlts. Am oberen Ende eines Hangs lag ganz alleine ein dicker weißer Ballon, aus dem über Nacht die Luft entwichen war. Hinter dem Stein, außerhalb des Friedhofsgeländes, fuhr die U1 ihre Runden, ein unruhiges Plätzchen.
Auf dem Stein befanden sich als Inschrift nur Geburts- und Todesjahr und die in ihn hineingekratzte Unterschrift Rowohlts. Zuerst las ich Henry Burgum, dann Iturk Norsklav, bis ich mich anhand der Jahreszahlen daran erinnerte, dass Harry Rowohlt genau siebzig Jahre alt geworden und damit leider auch »viel zu früh« von uns gegangen war. Er selbst dachte allerdings: »Immerhin bin ich siebzig geworden, mehr kann man nicht verlangen.«
Die Unterschrift auf dem eigenen Grabstein machte mich erst ein wenig stutzig, dann beinahe rasend. Bedeutete das, dass man den eigenen Tod quasi als letzten zu unterzeichnenden Vertrag selbst unterschrieben hatte? Eher deutete mir viel darauf hin, dass es sich bei diesem Stein um einen letzten Akt perfider deutscher Kulturbürokratie handelte.
Als ich direkt vor dem Stein stand, sah ich rechts hinter ihm etwas liegen, es war eine kleine Plastikflasche »Johnny Walker Red Label«-Whiskey. Ich drehte sie mit meinem Fuß um, sie war leer. Ich schaute noch tiefer ins Gestrüpp hinter dem Grabstein, aber da lag nichts mehr, nur diese Whiskeyflasche.
Wieder,