In zwangloser Gesellschaft. Leonhard Hieronymi

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In zwangloser Gesellschaft - Leonhard Hieronymi

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da und hob beide Arme hoch in die Luft. In einer Hand hielt er eine Gießkanne, und er redete laut und fordernd auf den Grabstein vor ihm ein. Aber ich war ganz sicher, er befand sich dort alleine.

      Entgegen aller Annahmen fand ich schnell zurück zum Fußgängereingang »Kleine Horst«.

      Durch den Feierabendverkehr fuhr ich durch Barmbek zurück nach Dulsberg. Die Sonne schien, keine Wolke war am Himmel. Zu Hause setzte ich mich an den Schreibtisch, es war immer noch sehr heiß, und ich trank kalten Pfefferminztee. Niemand hatte von mir Besitz ergriffen.

      5 Berlin-Mitte

      Ich war zu Besuch bei einem alten Freund in Berlin, und da ich mit ihm sowohl zweimal Falcos Grab auf dem Wiener Zentralfriedhof (einmal mit, einmal ohne Falcos »Mama« an dessen Seite) als auch das Grab von Helmut Schmidt in Hamburg besucht hatte, schonte ich ihn auch an diesem für ihn noch sehr frühen, weil verkaterten Sommermorgen nicht und bat ihn, mich zum Dorotheenstädtischen Friedhof zu begleiten.

      In Hamburg hatte Flexi mir gezeigt, dass Helmut Schmidts Grab auf golocal.de mit fünf von fünf Sternen bewertet worden war. In einer der Bewertungen hieß es, es lägen, zur Ehrerweisung, manchmal Mentholzigaretten auf oder hinter seinem Grabstein. Und weil mein alter Freund starker Raucher und deshalb Fan des Altkanzlers ist, hatte er sich an jenem Nachmittag davon überzeugen wollen, und wir fuhren zum Ohlsdorfer Friedhof und liefen etwa eine Stunde lang zu Schmidts Grab, hinter dem letzten Endes keine Zigaretten lagen – was Flexi mit drei von fünf Sternen auf golocal.de dann auch kritisch anmerkte.

      Flexi ist eigentlich ein guter Mensch, aber vollkommen pietätlos. Er ist sehr dünn, trägt eine große Brille und einen Schnauzbart, er hat dunkle Locken und rauchte damals noch den ganzen Tag französische Zigaretten. Seine Hobbys zu der Zeit waren, er hatte es selbst gesagt: »Alkohol, Tabak und Computer!«

      Mit ihm nahm ich vom Görlitzer Bahnhof erst die U1 bis zum Halleschen Tor, dann die U6 bis zum Naturkundemuseum, von wo aus wir zum Friedhof liefen.

      Unsere Münder standen offen, es war der heißeste Tag des Jahres, in den Nachrichten hieß es von Feuerwehrbeamten: »Wir haben eine Extremsituation.« Noch aber hatte der Sommer nicht die Dimension erreicht, die ihn zum Zeitpunkt der Auswertungen zum trockensten aller bisher aufgezeichneten machen würde.

      Ich hatte mir wie immer die Namen der Schriftstellerinnen und Schriftsteller aufgeschrieben, diesmal aber keine Grabnummern, weil ich, aufgrund der relativ geringen Größe bei gleichzeitiger Prominentendichte des Friedhofs, hoffte, sie auch so zu finden.

      Nur mit einem hatten wir nicht gerechnet: Ein Friedhof mitten in Berlin ist ein Ort voller Touristen. Wie überall in der Stadt schleppten sie sich auch hier mit ihren Rollkoffern und Zara-Tüten durch die Grabreihen. Die Hartgummireifen gerieten auf den Kieswegen ins Stocken, die Kugellager gaben auf, und die Koffer mit den verpixelten Schwarz-Weiß-Abbildungen von Paris hinterließen mehrere Zentimeter tiefe Schleifspuren auf den Wegen. Auch bei ihnen standen die Münder offen, aber vor Hohlheit.

      Der seelen- und leidenschaftslos praktizierte Massentourismus in Europa ist eine der größten Sünden unserer Zeit, und ich ließ es die Touristen, auf deren Instagram-Accounts wahrscheinlich Sprüche wie »Travel as much as you can!« standen, mit heftigen Zischlauten wissen. Niemand von diesen Menschen hatte eine »Aufgabe«, sie waren einfach nur da, sie waren mittelmäßige Existenzen. Sie schauten sich um, und sie verstanden nichts. Die totale Musealisierung Europas war gekommen und auch die Grabstätte nur ein Ausstellungsstück auf dem überfüllten Friedhof.

      »Top Lage, aber ein wenig zu unruhig«, sagte Flexi und lachte hustend – die Zigarette im Mundwinkel.

      Überall, hinter den Bäumen und Mauern des Friedhofs, schauten aus den Fenstern von Zimmern der Bundesministerien und Hotels die Lebenden zu den Toten hinab.

      »Eigentlich das Gegenteil eines schönen Friedhofs«, sagte ich, »aber er passt irgendwie zur Innenstadt: alles staubig und strukturlos, unselig, grob verhauen und verklotzt, irgendwie dreckig.«

      »Ah, Brecht!«, unterbrach mich Flexi. »Der Grabstein, an den jeder Hund gern pinkeln möchte – so wollte er es haben.« Er ging näher auf das Grab des Augsburgers zu, der dort mit seiner Frau Helene, stark eingeengt, am Rand einer Backsteinmauer liegt.

      Rechts neben Brechts lagen Heinrich Mann, Johannes R. Becher, Lilly Becher und Anna Seghers fast nebeneinander.

      Heinrich Mann wollte mit dem polnischen Transatlantik-Passagierdampfer Batory, dem man während des Zweiten Weltkriegs und aufgrund mehrerer glücklich überstandener Luft- und Seeangriffe den Spitznamen The lucky ship verpasst hatte, von Los Angeles und aus den Fängen seines Bruders Thomas zurück nach Deutschland reisen, allerdings zögerte er zu lange und erlag in Kalifornien einem Herzinfarkt. Erst 1961 wurde sein Leichnam über Prag nach Berlin gebracht. Seine Frau Nelly liegt noch immer in Santa Monica. Ein Versäumnis, das sich irgendwann, dachte ich, durch einen paranormalen Bund zwischen den beiden rächen wird – egal in welcher Form. Überhaupt fielen mir die Namen der Frauen auf, die entweder abseits, gesondert, kleiner oder tiefer erwähnt wurden.

      Neben Mann lag Becher. In seiner Schlichtheit ein ebenso wuchtiges Grab. Oben sein Name, untendrunter der Name seiner Frau Lily, dazwischen ein irre pathetisch verfasster Text, in dem ein gewisser heiliger Ernst lauerte:

      Vollendung träumend,

      hab ich mich vollendet,

      wenn auch mein Werk

      nicht als vollendet endet.

      Denn das war meines Werkes

      heilige Sendung

      Dienst an der Menschheit

      künftiger Vollendung.

      Vor dem Grab von Anna Seghers hatte sich eine große und schwitzende Touristengruppe versammelt. Eine von diesen Hunderttausenden Touristenführungen in Berlin. Hier wurde alles seziert und zitiert. Diese Stadt war das komplette Gegenteil von Frankfurt. Frankfurt war zwar auch hässlich, aber wenigstens versuchte man nichts daraus zu machen. Hier wollte man zeigen, was es alles gab und wie schön das alles war, auch wenn es völlig belanglos wirkte. Sie schauen sich sicherlich gerade das Grab von Ernst Litfaß, dem Erfinder der Litfaßsäule an, dachte ich.

      Als sie gingen und wir an Anna Seghers’ Grab standen, musste ich an eine Fotografie denken, ein Bild von Anna Seghers, das kurz nach ihrem Autounfall in Mexiko-Stadt 1943 aufgenommen wurde. Noch nie habe ich so traurige und schöne Augen gesehen. Mehrere Umstände machen dieses Bild und diesen Blick besonders: die grauen Haare, die Ermordung ihrer Mutter, der Tod ihres Vaters, die Enthauptung eines Freundes, die weite Entfernung zu ihrer im Luftkrieg zerstörten Heimatstadt Mainz, die Fahrerflucht des Unfallverursachers, der Autounfall selbst und die bei ihr durch diesen Unfall verursachte kurzzeitige Blindheit.

      Anna Seghers zog mit ihren Eltern 1904 in die Kaiserstraße, exakt in dieselbe Straße und dieselbe Hausnummer und auch in dasselbe Stockwerk, in das ich zu Beginn meines Studiums in Mainz gezogen war. Allerdings brannte das Haus während des Zweiten Weltkriegs nieder, und ich wohnte, wahrscheinlich leicht versetzt zur tatsächlichen Wohnung Anna Seghers’, zusammen mit zwei Sportstudenten – die sich die ganze Nacht Bratwürste brieten und inzwischen Co-Trainer von Paris St. Germain sind – in einem hässlichen Neubau, sodass ein möglicher »entkörperter Geist« kein »objektives Etwas« in unserer Wohnung mit Ektoplasma erzeugt hatte, wie es sich manche Spiritisten erklären. Trotzdem ist die Mainzer Kaiserstraße eine Straße mit viel Energie, es gibt dort viel Irrationales – einmal, nach der Lektüre

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