In zwangloser Gesellschaft. Leonhard Hieronymi
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»Sie war Präsidentin des antifaschistischen Heinrich-Heine-Klubs«, unterbrach ich mich selbst in meinen Gedanken, weil ich eine Gänsehaut bekam. Flexi, der nicht wusste, warum ich vor diesem Grab stand und lächelte, entlockte wenigstens diese Tatsache auch eins.
Wir gingen weiter, an Christa Wolfs Grab vorbei, das uns sehr hübsch und weiß und schlicht vorkam und neben dem viele Werther’s Original Karamellbonbons lagen. Überhaupt wunderten wir uns an jeder Ecke. In das Steinfundament um Heiner Müllers Grab war ein Aschenbecher eingelassen; auf dem von Herbert Marcuse stand »weitermachen!«; überall sahen wir Figürchen und Gummilöwen und Wasserpistolen, Gräber waren von Weinranken umgeben und mit Münzen und Federn und Plastikblumen überhäuft, und wir dachten das, was auf Fritz Teufels Grab steht: »Wenn’s der Wahrheitsfindung dient …«
Ganz in der Nähe konnten wir jetzt auch Thomas Brasch und Stephan Hermlin betrachten und Elfriede Brüning und Hanns Eisler und Fichte und Schinkel und Tabori. Vielleicht berühren sich – durch die in der Nähe unterirdisch fahrende und kleine Erdbeben verursachende U6 – inzwischen ihre Schädel- und Oberschenkelknochen.
Nachdem ihm Mann und Brecht noch etwas sagten, war es hier, bei Wolf, Brasch und Hermlin, gänzlich um das Verständnis Flexis geschehen. Er kannte die Biographien dieser Menschen nicht. Für ihn waren sie nicht unsterblich, sie waren nicht verschwunden, sie haben für ihn noch nie existiert und würden es auch nie.
Wie mein Bruder, der auf dem Frankfurter Hauptfriedhof nur mit den Schultern gezuckt hatte, wusste auch Flexi mit der seltsamen Situation auf seine Weise umzugehen: Er rauchte eine rote Gauloises-Zigarette nach der anderen. Er schnickte sie nach rechts auf die Gräber von Egon Bahr, Helene Weigel und John Heartfield und nach links auf die Grabplatten und Urnengräber von Johannes Rau und Bernhard Minetti.
Als wir vorm Grabstein von Wolfgang Herrndorf standen, stoppte ich ihn. Hier würde er keine Kippen versenken. Es war noch immer Wassernotstand, ich konnte es nicht zulassen, dass er diesen Friedhof in Schutt und Asche legte, und ich wollte bei Herrndorf, der sich vor knapp fünf Jahren in den späten Abendstunden am Hohenzollernkanal mit allerletzter Kraft mit einem Kopfschuss das Leben nahm (»Ich sehe die Walther PPK in meiner Hand, ich sehe sie in meinem Mund«), ich wollte wenigstens dort etwas Pietät bewahren.
Am Tag von Herrndorfs Freitod war es warm gewesen, ich konnte mich erinnern, es war einer der Tode, den man damals erwartete, und es hatte ununterbrochen geregnet. Ich hatte den ganzen Augustnachmittag auf einem Sofa im Wohnzimmer einer Freundin gesessen und Cointreau aus einer Muschelschale getrunken, die ich im Bad gefunden hatte. (Mein Mund schäumte erst ein bisschen, weil sie die Muschel wohl als Seifenschale benutzt hatte.) Ab und zu stellte ich mich mit Flexi, der auch dabei war, ans Fenster des Wohnzimmers und schaute ihm beim Rauchen zu. Die Kippen versuchte er so aus dem Fenster zu schmeißen, dass sie auf den Lindenblättern der Bäume unter uns zum Liegen kamen. Ein alter Freund radelte an uns vorüber. Wir riefen laut seinen Namen, und wenig später saß er mit uns im Wohnzimmer und weinte, er weinte über einen Verlust, der nichts mit Herrndorfs Tod zu tun hatte – von dem noch niemand etwas ahnte –, und vielleicht weinte er auch, weil er einen bald bevorstehenden Verlust schon spüren konnte – von dem aber ebenfalls noch niemand etwas ahnte und der auch nicht an diese Stelle gehört.
In Herrndorfs letztem und unvollendeten Buch gibt es einen bemerkenswerten Dialog, der zwischen der jungen Hauptfigur und einem Mann in einer grünen Trainingsjacke (der Herrndorf aufgrund seiner eigenen Vorliebe für grüne Adidas-Trainingsjacken sehr ähnelt) geführt wird. Sie stehen zusammen am Grab von Daniel Franz, einem im Zweiten Weltkrieg verstorbenen Soldaten, auf dessen Grab jemand nach jüdischem Brauch mehrere Steine gelegt hatte:
»Wozu sind die Steine?«, frage ich.
»Das ist eine jüdische Sitte.« Er blickt auf das Grab. »Obwohl das kein Jude ist. Die Leute machen das jetzt überall so. Alles Idioten. Und wir müssen’s ausbaden.«
Später würde ich den Friedhofsverwalter von Bad Oldesloe treffen und ihn nach dem Missbrauch von Bräuchen fragen.
»Der Schriftsteller von Tschick ist schon tot?«, würde er antworten und dann kurz gegen das aus den Fenstern auf seinen Schreibtisch fallende Licht blinzeln. »Na ja – wir haben es hier mit der sogenannten ›Abladementalität‹ zu tun. Das ist ganz einfach eine Orientierungslosigkeit der Menschen. Sie wissen nicht, wie sie sich an einem Grab benehmen sollen, auch hier geht’s viel um das Ich. Ich war hier, also lege ich zum Zeichen meiner Anwesenheit – nicht unbedingt zum Gedenken! – einen Stein auf das Grab. Oder einen Engel aus Plastik, Schrott halt.«
Auf Herrndorfs Grab lagen nicht nur Steine, sondern auch Kastanien, Münzen, Marienkäfer aus Holz und Federn. Unterschiedlichste Abladementalitäten waren in letzter Zeit vor diesem Grab zusammengekommen. Es war auch eines der jüngsten Gräber auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, also lagen hier im Vergleich die meisten Gegenstände, die Fans, Verehrer, Vertraute und Trauernde hinterlassen hatten. Bei Hertha und Wolfgang Borchert in Hamburg hatte nichts mehr gelegen außer ein paar Zigarettenstummeln, bei Harry Rowohlt nur ein Fläschchen Whiskey, die Inschrift von Ricarda Huchs Grab in Frankfurt war kaum noch zu erkennen gewesen.
In der Nähe, im Brecht-Haus, gab irgendjemand ein Konzert, jetzt wurde es auch noch laut auf dem Friedhof. Ich fasste Flexi am Ärmel seines Hemdes und nickte. Er verstand das als Aufforderung zum Verschwinden und ließ seine leer gerauchte Kippe nach ein paar Schritten wieder durch die Luft schwirren. Ich verfolgte sie mit meinem Blick. Sie landete auf dem Kiesweg vor dem Grab von Arnold Zweig.
»Warte mal«, sagte ich und ging kurz zurück zu Wolfgang Herrndorf.
Mit einem Donnerschlag wischte ich die Steine von seinem Grabstein.
»Komm«, sagte ich und meinte damit Flexi, und wir gingen gegenüber ins Quell-Eck, der Gaststätte mit der ältesten und noch immer nicht verschwundenen (weil geschickt in der Nähe eines Friedhofs platzierten) Bierzapfsäule der Stadt.
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