In zwangloser Gesellschaft. Leonhard Hieronymi

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In zwangloser Gesellschaft - Leonhard Hieronymi

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durch einen kleinen Teil der Mark Brandenburg stundenlang mit einem knallroten Badebrett im Wasser, also entschuldigte ich mich bei ihr und ging gegen Nachmittag den Ort hinauf zur Kirche. Ich konnte schon von weitem erkennen, dass sie abgeschlossen war, trotzdem ging ich um das Gebäude herum, um es zu untersuchen. Es machte einen leicht maroden Eindruck, an den Fenstern hingen hellgrau und in dicken Schichten Spinnweben, und trotzdem fanden hier anscheinend Gottesdienste statt. Rechts und links vom Kirchenschiff gab es kleine Seitenflügel, die mehr wie Abstellkammern wirkten. Ich schlug mich ein paar Meter hinter ihnen ins Gestrüpp, aber natürlich war da kein Fried- oder Kirchhof.

      Ich erinnerte mich an Stephen Kings Roman Friedhof der Kuscheltiere, den mein Vater früher in der Nähe seines Privatklos im Regal stehen hatte. Er hatte dort neben Hunderten ausgelesenen und aufgeweichten Drachenfliegerzeitschriften und Westernromanen gelegen, ein schwarzes Buch ohne Umschlag.

      Gleich nachdem ich lesen gelernt hatte, nahm ich es aus dem Regal, weil ich wusste, dass sich mein Vater vor ihm fürchtete und es nicht zu Ende lesen konnte. Ich wollte unbedingt herausfinden, was diesen sonst so furchtlosen Erfinder der Überlaufgarnitur an ein paar Beschreibungen von alten Friedhöfen aus der Ruhe bringen konnte. Er gab mir gegenüber zum ersten Mal in seinem Leben zu, vor etwas Angst zu haben – und dann war es ausgerechnet die Literatur. (Später, als wir alt genug waren für wahren Horror, schilderte er mir und meinem Bruder seine größte Angst: den Voodoo und die lebenden Toten.)

      In Kings Roman zieht eine Familie in die tiefen Wälder Neuenglands; Wälder, in denen noch immer Dämonen leben. In der Nähe ihres Hauses liegt ein Tierfriedhof, dahinter versteckt eine alte Begräbnisstätte des indianischen Volks der Mi’kmaq. Dort begräbt der Familienvater nacheinander die überfahrene Katze, den verstorbenen Sohn und die ermordete Frau. Alle kehren zurück ins Leben, nach Erde riechend und mit teuflischem Benehmen.

      Der Roman behandelt, wenn man es so will, die Theorie der Ewigen Wiederkehr von Nietzsche. In der Fröhlichen Wissenschaft heißt es:

      »Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in derselben Reihe und Folge – und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!«

      Ähnliche Gedanken über kreisförmige Labyrinthe und die zyklische Zeit finden sich auch schon bei den Pythagoreern oder David Hume. Und als die Punkband Ramones den Schriftsteller King in den achtziger Jahren in seinem Haus besuchte, damit sie sich gegenseitig die Ehre erweisen konnten, schrieb Dee Dee Ramone innerhalb weniger Minuten den Song »Pet Sematary« mit den Lyrics: »I don’t wanna be buried in a pet cemetery, I don’t want to live my life again.« Dafür, dass dieser Song dann für die Goldene Himbeere als schlechtester Filmsong des Jahres 1989 nominiert wurde, enthält er eine zutiefst traurige Nachricht. Denn die (egal zu welchem Zeitpunkt eines Lebens) gezogene Bilanz, das bisher gelebte Leben nicht noch einmal leben zu wollen – und das nicht mal als Punkrocker –, bedeutet nur, dass mehr als fünfzig Prozent eines Lebens entweder aus Langeweile, Banalitäten und grauen, traurigen Augenblicken voller Scham, Gemeinheit und Elend besteht oder spätestens beim zweiten Mal dann nur noch aus womöglich schmerzender Langeweile bestehen würde. Und wer würde das ganz ernsthaft wollen? Es ist der weiseste Song, den es gibt.

      Als ich hinter der Kirche durch das Gestrüpp streifte, schüttelte es mich trotz der Hitze. Hier lag kein Kirchhof, sondern der große Garten des von Fontane beschriebenen Herrenhauses Schloss Stechlin, »ein gelb getünchter Bau mit hohem Dach und zwei Blitzableitern«, der auf den Trümmern eines schon längst verschwundenen, wirklichen Backsteinschlosses, mit Rundtürmen und Schlossgraben, erbaut worden war.

      Im Garten lagen dort zwei angebräunte Rentner auf weißen Liegestühlen und sonnten sich. Bevor sie mich sehen konnten, drehte ich mich um und lief zurück zum See.

      Nach meiner ergebnislosen Exkursion holte ich Maria ab. Wir gingen durch den Ort und irgendwann zurück ins Ferienhaus.

      Später, als draußen die ersten Blitze quer durch den Himmel schossen und ein schweres Hitzegewitter in der Luft lag, legten wir uns schlafen. Drei oder vier übereinanderliegende Unwetterfronten hingen bei vollkommener Windstille stundenlang über dem See. Es regnete nicht, es stürmte nicht, es donnerte nur ununterbrochen, während die Vögel im anbrechenden Morgengrauen gegen das Gewitter anschrien. Dann, nach drei Stunden, begann es langsam zu regnen, und wir schliefen endlich ein.

      Am nächsten Morgen lief ich alleine los, um in der Nähe der Bushaltestelle eine kleine Ortsübersicht zu studieren. Der nächste Friedhof lag in Dagow, einem zu Stechlin gehörenden Ortsteil, der nur ein kleines Stück weit den Wald hinunter lag. Nur dort konnte Hanns Krause noch liegen.

      Danach weckte ich Maria, und wir gingen los.

      Der Friedhof lag abschüssig in einem Hain. Wir öffneten ein Eisengatter und betrachteten die historische Hinweistafel, auf der ich aber Informationen über Hanns Krause nicht ausmachen konnte. Stattdessen gab es wieder nur den Verweis auf Theodor Fontane und seine Beschreibung desselben Friedhofs in den Wanderungen.

      Nach hundert Metern durchs Dickicht hielt mich Maria schon erschrocken am Arm fest. Ich schaute in ihre graugrünblauen Augen – sie zeigte auf mein rechtes Schienbein, dort saßen, in aller Seelenruhe und inbrünstig an mir saugend, mehrere Zuckmücken. Ich schlug wie wild auf sie ein und erwischte dabei die langsamste. Ein großer schwarzer Fleck bildete sich sofort da, wo sie mich gestochen hatte.

      »Lass uns hier abhauen!«, rief Maria.

      Über eine weitere Eingangstür verließen wir fluchtartig den mückenverseuchten Friedhof und wenig später die Ortsgrenze von Dagow.

      Am Nachmittag fuhren wir zurück nach Hamburg. Die Mücken hatten auf unseren Armen und Beinen Dutzende dunkelrote Blutergüsse hinterlassen. Über der ganzen Stadt lagen Gewitter. Ich fand nach stundenlanger Recherche heraus, dass Krause mit seiner Frau auf dem Friedhof in Fürstenberg begraben lag, ganz in der Nähe von Neuglobsow.

      Ich lehnte mich zurück. Man muss das Scheitern genießen.

      4 Hamburg-Ohlsdorf

      Die Vespa sprang nach fünf Minuten endlich an, ich hatte sie seit vergangenem Oktober nicht mehr bewegt. Ich nahm von Süden kommend die ewig lange Fuhlsbüttler Straße und stellte das Moped vor einer Tischtennisplatte des Gartenvereins Klein Borstel ab, wo sich alle paar Minuten die U1 nach Norderstedt schob.

      Ich hatte nichts dabei, keine Zigaretten, nichts zu trinken, keine Pfefferminzbonbons. Der Eingang »Kleine Horst«, der direkt von den Schrebergärten auf den Friedhof Ohlsdorf führt, war unscheinbar und schmal, ein Schild wies mahnend darauf hin, das Radrennen zu unterlassen, um Trauernde und die Totenruhe nicht zu stören.

      Ich öffnete die App Friedhof Ohlsdorf, die ich mir am Tag zuvor für 2,99 Euro heruntergeladen hatte, und suchte nach Roger Willemsens Grab, es musste ganz in der Nähe sein. Die Existenz der App ist bezeichnend für die Dimensionen dieses Friedhofs: Es ist der größte Parkfriedhof der Welt. Er ist so groß, dass verschiedene Buslinien ihn durchqueren, Radfahrer ihn als Abkürzung durch die Stadt benutzen und es allerlei geheime Winkel gibt, in denen sich Menschen verschiedensten Ritualen hingeben. Jedes Jahr wird hier mindestens ein neues Mausoleum im sechsstelligen Bereich in Auftrag gegeben. Es gibt einen Friedhof für chinesische Seeleute, eine Abteilung für islamische Bestattungen, ein Bombenopfer-Sammelgrab und eins für die Sturmflutopfer von 1962, es gibt britische Soldatengräber,

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