In zwangloser Gesellschaft. Leonhard Hieronymi

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In zwangloser Gesellschaft - Leonhard Hieronymi

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nicht, die hat sein Freund F.K. Waechter in einer Bildergeschichte verewigt. Und Geschriebenes – Geschichten sind immerhin beständiger als das Wirkliche.

      Mein Telefon vibrierte, ich hob ab:

      »Wer ist da?«

      »Ich bin’s, Maria. Was machst du?«

      »Ich bin doch in Frankfurt, auf der Suche nach Gräbern.«

      »Klingt aufregend«, sagte sie, ohne zu versuchen, dabei überzeugend zu klingen. »Ich muss dich um etwas bitten. Kannst du nächste Woche mit mir an die Oberhavel fahren? Ich glaube, meine Mutter braucht unsere Hilfe.«

      »Was ist denn passiert?«, fragte ich.

      »Es ist nichts Schlimmes, es ist gar nichts. Ich muss sie einfach mal wieder besuchen. Und es wäre schön, wenn du mitkommst.«

      »Aber ich bin gerade erst losgefahren zu den Friedhöfen. Ich muss noch nach Mainz zu Ida Hahn-Hahn und zu Kathinka Zitz-Halein und nach Friedrichsdorf ans Grab von Karl-Herbert Scheer.«

      »Zu wem?«

      »Alle vergessen, alle tot.«

      Kurz herrschte Stille, weil ich es ihr nicht erklären konnte.

      »Gut, ist nicht so wild. Ruf mich an, wenn du es dir anders überlegst«, sagte sie.

      »Moment!«, rief ich.

      Ich überlegte. Einerseits konnte ich meine Reise doch nicht schon am Anfang unterbrechen, andererseits: Sicherlich würde ich auch dort, im Nordosten, Gräber finden, Friedhöfe sehen und Stimmungen einfangen können.

      Ich betrachtete meinen Bruder, er scharrte mit den Füßen am Boden. Er wollte los, er wollte jetzt endlich zu diesem Treffen.

      »Maria?«

      Sie war noch dran.

      »Ich hab’s mir anders überlegt.«

      3 Stechlin

      Wenige Tage später fuhren wir an die Oberhavel.

      Es hatte in Brandenburg seit Wochen nicht geregnet, und das ganze Land glich einem neumexikanischen Wüstengrab. Von den abgeernteten und ausgedörrten Rapsfeldern stiegen meterhohe Staubwolken auf, die den Horizont verschleierten.

      Auf der Autobahn hatte Maria ihre Schuhe in einem Wurm-loch verloren. Sie war in Hamburg noch mit ihren Badeschlappen ins Auto gestiegen, als sie aber an der Raststätte Prignitz hinauskletterte, waren sie nicht mehr aufzufinden, und weil erhöhte Waldbrandgefahr herrschte, musste ich mit meinen Segelschuhen die Zigaretten austreten, die sie am Rand glutheißer Teerbeläge rauchte. Segelschuhe sind zwar die bequemsten Schuhe, die man im Sommer tragen kann, aber meine langen und schmalen Füße sahen darin aus wie weich gekochte Rigatoni in einem Kindersarg.

      Wir erreichten Neuglobsow am frühen Abend, legten unser Gepäck im Ferienhaus von Marias Mutter ab und gingen gleich hinunter zum Großen Stechlinsee. Die nassen Köpfe der Badenden glitzerten im Licht wie Wasserspinnen, und der See war ruhig und wartete auf die wasserfärbende Wirkung der noch immer hochstehenden vergilbten Staubsonne. Der See, er war ähnlich wie Fontane ihn in seinem Buch Wanderungen durch die Mark Brandenburg beschrieben hat: »Da lag er vor uns, geheimnisvoll, einem Stummen gleich, den es zu sprechen drängt. Aber die ungelöste Zunge weigert ihm den Dienst, und was er sagen will, bleibt ungesagt.«

      Irgendetwas will dieser tiefe See tatsächlich sagen, aber weniger dringend und direkt, als Fontane meint, eher schickt er seine Botschaften durch starke naturbedingte Stimmungsschwankungen an seine Umgebung heraus, er wirkt unberechenbar, unheimlich, tief und finster.

      Ich schlug mein Notizbuch auf, in das ich mir mehrere Namen geschrieben hatte: Armin T. Wegner, Lola Landau, Hanns Krause, Lori Ludwig und Theodor Fontane. Alle waren hier Gast gewesen oder hatten in Neuglobsow gelebt, aber Fontane liegt in Berlin-Mitte begraben, Wegner starb in Rom, Landau in Jerusalem und Ludwig in Fürstenberg. Einzig Hanns Krause, ein DDR-Kinderbuchautor, war auch in Neuglobsow gestorben, ihn würde ich in den nächsten zwei Tagen suchen.

      Wir befanden uns in einem Ortsteil der Gemeinde Stechlin, kurz vor der mecklenburg-vorpommerschen Grenze. Ein sowohl im Winter als auch im Sommer märchenhafter und bizarrer Ort. Umgeben von Wald hing der See wie ein Kalmar am Rande des aus Ferienhäusern, giftgrün gestrichenen Bungalows und einem alten verfallenden Hotel bestehenden Dorfs. Am anderen Ende des tiefen Sees stachen aus dem Wald heraus stumm die Antennen eines ehemaligen Atomkraftwerks hervor.

      Auf der rechten Seite des Ortes wiederum, durch den nur eine lange Straße führte und dessen Wochenendvillen sich an kleinen, wahrscheinlich erst seit kurzem asphaltierten Straßen wie dünne Adern einen Hang hinauf im Wald verloren, lag eine evangelische Kirche – dort wollte ich am nächsten Tag Ausgrabungen betreiben, um Hanns Krause zu finden. Allerdings hatte ich über Krauses Grab keinerlei Informationen und dachte, dass auch seine Bücher in westdeutschen Bibliotheken wohl nicht mehr aufzutreiben waren. Wahrscheinlich lagern und verfaulen sie in Truhen, auf Dachböden, in Pappkisten oder Kellern, dachte ich.

      Ob Neuglobsow überhaupt einen Friedhof hatte, wusste ich zu dem Zeitpunkt auch noch nicht, aber die Titel der Kinderbücher Hanns Krauses gefielen mir so gut, dass ich ihn unbedingt finden wollte, um zu schauen, in welchem Zustand sich sein Grab befand: Löwenspuren in Knullhausen / Holzdiebe im Jagen 45 / Alibaba und die Hühnerfee / Bärenjagd in Tulpenau / Kein Bett, kein Geld und große Ferien.

      Am späten Abend verließen wir die Ufer des Sees und setzten uns in den Garten des Ferienhäuschens am Ortseingang. Aus dem Wald, der am anderen Ende des Gartens begann, tönte ein Käuzchen, und mit der spät einsetzenden Dämmerung kamen scharenweise die Kriebelmücken, als hätte man mit einer Glocke zum Abendbrot geläutet. Die Kriebelmücken stachen uns nicht, sie zerrissen uns die Haut mit Beißzangen, wo sich am nächsten Tag große Blutergüsse bildeten. Zum ersten Mal seit langem rauchte ich wie wild Zigaretten, um sie abzuwehren, dazu trank ich Dosenbier.

      Und mit der Nacht kamen auch die Froschkaskaden. Es war ein wildes, durchdringendes und bei der Vorstellung des massenhaften Fortpflanzens fast ekelhaftes Tönen.

      Den ganzen nächsten Tag lagen wir am See, aber natürlich ging ich nicht ins Wasser. Ich betrachtete die glatte Oberfläche und die wenigen Badenden. Angeblich waren während des im Herbst 1755 stattgefundenen Erdbebens von Lissabon hier staubende Wasserhosen zwischen den Ufern aufgetaucht, auch hatte das Senkblei bei frühen und ungenauen Messungen den Grund des Sees nicht gefunden. Marias Mutter war ebenfalls mit der Theorie vertraut, die man auch in Fontanes Roman Der Stechlin nachlesen kann: Angeblich ist der See durch unterirdische Kapillare mit einem Vulkan auf einer pazifischen Insel verbunden. Sollte es auf der Pazifikseite einmal zu Ausbrüchen oder Seebeben kommen (wobei man seltsamerweise jedes verheerende Beben mit dem Stechlinsee in Verbindung bringt), lösen sich vom Grund des Sees rote Algen, die an die Oberfläche schwimmen und dem Wasser einen rötlich schimmernden Glanz verpassen, fast so, als würde der See brennen. Dieses Phänomen ist in der dreihundert Einwohner umfassenden Idylle Neuglobsow nur unter dem Namen »der rote Feuerhahn« bekannt.

      Zweimal in der Stunde – immer mit Blick auf den See, weil ich Angst hatte, es könnte etwas aus ihm hinaussteigen, während ich ihm den Rücken zuwandte – lief ich zu einem Kiosk in der Nähe und kaufte dort Eis und Bier. In einem Fischrestaurant, das dreihundert Meter durch den Wald am Seeufer lag, aß ich in den Nachmittagsstunden eine nach Fontane getaufte und nur im Stechlinsee beheimatete Stechlin-Maräne

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