Plädoyer für eine realistische Erkenntnistheorie. Jürgen Daviter
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Plädoyer für eine realistische Erkenntnistheorie - Jürgen Daviter страница 14

Auf diesen Standpunkt legt sich Hume schon im einleitenden Abschnitt I fest („Über die verschiedenen Arten der Philosophie“). Er spricht von der „tiefgründigen und abstrakten Philosophie“ als „Quelle von Ungewissheit und Irrtum“ (EHU‚ S. 23); die „einzige Methode“ und das einzig vertretbare Motiv und Ergebnis der Erkenntnissuche seien „eine ernsthafte Untersuchung der Natur des menschlichen Verstandes und der aus exakter Analyse seiner Kräfte und seiner Fähigkeit gewonnene Nachweis‚ dass er in keiner Weise für solche entlegenen und dunklen Aufgaben geeignet ist“ (EHU‚ S. 25). „Genaues und richtiges Denken ist das einzige universale Heilmittel …‚ jene dunkle Philosophie und das metaphysische Kauderwelsch zu untergraben‚ das … diese für sorglose Denker in gewisser Weise undurchdringlich macht und ihr den Anschein von Wissenschaft und Weisheit gibt.“ (EHU‚ S. 27.) „Und wir müssen die wahre Metaphysik mit einiger Sorgfalt pflegen‚ um die falsche und verdorbene zu zerstören.“ (EHU‚ S. 25.)57 Bei einer solchen Ansicht darf es nicht verwundern‚ wenn Hume im letzten Absatz der Enquiry sarkastisch feststellt: „Wenn wir … unsere Bibliotheken durchgehen‚ welche Verwüstung müssten wir dann anrichten? Nehmen wir irgendein Buch zur Hand‚ z. B. über Theologie oder Schulmetaphysik‚ so lasst uns fragen: … Enthält es eine auf Erfahrung beruhende Erörterung über Tatsachen und Existenz? Nein. So übergebe man es den Flammen‚ denn es kann nichts als Sophisterei und Blendwerk enthalten.“ (EHU‚ S. 421.)
Die alte‚ falsche und verdorbene Metaphysik war für Hume die rationalistische Philosophie‚ die vorgab‚ allein aus Denkakten heraus Wahrheiten über Dinge begründen zu können‚ die außerhalb der erfahrbaren Welt liegen (z. B. Gottes Existenz)‚ und die - oft mit Hilfe solcher „Einsichten“ - auch die Dinge dieser Welt allein aus dem Denken heraus glaubte erklären zu können. Oswald Külpe spricht treffend von der „Metaphysik als Lehre von dem Unerfahrbaren“58. Die „wahre Metaphysik“ dagegen ist in den Augen Humes jene Philosophie‚ die nach gründlichen erkenntnistheoretischen Reflexionen zu der Einsicht führt‚ dass genau das‚ nämlich eine Lehre von etwas Unerfahrbarem‚ nicht möglich ist. Seine „wahre Metaphysik“ ist dieselbe Metaphysik‚ die Kant etwas später im Titel seiner Prolegomena erwähnt: in den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik‚ die als Wissenschaft wird auftreten können. Descartes war einen überzeugenden Beweis für den Wahrheitsanspruch der „alten“ Metaphysik schuldig geblieben. Die Erkenntnistheorie‚ die Hume in der Enquiry entwirft‚ bricht zum ersten Mal in der Philosophie radikal und wohlbegründet mit der Annahme kausaler Gewissheiten und ist - entsprechend den ersten beiden oben zitierten Mottos - ein einzigartiges und zu seiner Zeit unerhörtes Plädoyer für ein bescheidenes Urteil über die Erkenntnismöglichkeiten des Menschen.
3. Unsere „lebhaften Perzeptionen“ als Grundlage der Ideen
Im Abschnitt II der Enquiry („Über den Ursprung der Ideen“) teilt Hume „Perzeptionen des Geistes“ in zwei Klassen ein‚ einerseits Gedanken oder Ideen‚ andererseits Eindrücke; zu den letzteren zählt er „unsere lebhafteren Perzeptionen‚ wenn wir hören‚ sehen‚ fühlen‚ lieben‚ hassen‚ begehren oder wollen“. Und er stellt sofort eine Beziehung zwischen den beiden Klassen in den Vordergrund: Ideen sind „die weniger lebhaften Perzeptionen …‚ deren wir uns bewusst sind‚ wenn wir auf eine der oben erwähnten Wahrnehmungen oder Gemütsbewegungen reflektieren“ (EHU‚ S. 41). Hume lässt keinen Zweifel daran‚ dass er die Eindrücke für grundlegend und entscheidend hält‚ weil „die schöpferische Kraft des Geistes nur auf das Vermögen hinausläuft‚ das uns durch die Sinne und die Erfahrung gegebene Material zu verbinden‚ umzustellen‚ zu vermehren oder zu vermindern… Alle unsere Ideen oder schwächeren Perzeptionen sind Kopien unserer Eindrücke oder lebhafteren Perzeptionen.“(EHU‚ S. 43.) Als Beispiel mag sein Hinweis auf die wohl geschichtsträchtigste Idee dienen‚ die Idee Gottes: „Die Idee Gottes‚ in der Bedeutung eines allwissenden‚ allweisen und allgütigen Wesens‚ entsteht aus der Reflexion auf die Operationen unseres eigenen Geistes und aus der grenzenlosen Steigerung dieser Eigenschaften der Güte und Weisheit.“(EHU‚ S. 45.) Alle Argumentationen Humes laufen darauf hinaus‚ dass uns eine Idee nur in einer „einzigen Weise … in den Geist‚ den Verstand treten kann‚ nämlich durch wirkliches Empfinden und Wahrnehmen“ (EHU‚ S. 47). In einer abschließenden langen Fußnote geht Hume auf die sogenannten eingeborenen Ideen ein. Wenig überraschend lautet sein Fazit: „Nimmt man aber die Termini Eindrücke und Ideen in dem oben erklärten Sinne‚ und versteht man unter eingeboren dasjenige‚ was ursprünglich oder von keiner vorhergehenden Perzeption kopiert worden ist‚ dann können wir behaupten‚ dass alle unsere Eindrücke eingeboren und unsere Ideen nicht eingeboren sind.“ (EHU‚ S. 51.) Damit stellt er die herrschende metaphysische Sicht der Dinge auf den Kopf.
Grundsätzlich darf man diese Vorstellung Humes59 als Vorwegnahme eines heute weitgehend anerkannten Grundgedankens der Evolutionstheorie und der Evolutionären Erkenntnistheorie betrachten: Unsere Sinnesorgane sind die entwicklungsgeschichtlich (phylogenetisch) ursprünglichen Fenster und Türen zur Welt. Eindrücke entstammen direkt der wirklichen Welt und gehen als solche phylogenetisch der Bewusstseinsbildung‚ also auch allen Gedanken und Ideen‚ voraus. (Nur in diesem phylogenetischen Sinne sind alle Gedanken und Ideen den Sinneseindrücken nachfolgend‚ nicht etwa in dem Sinne‚ dass niemand hier und heute einen Gedanken oder eine Idee ohne einen entsprechenden persönlichen Sinneseindruck haben könnte.)
Dazu stehen die erwähnten eingeborenen Ideen im Widerspruch; und sie sind von zentraler Bedeutung für die „alte“ Metaphysik. Sie sind notwendig‚ um wahre Erkenntnisse über die Welt vorgeben zu können‚ ohne mit der Welt in direkten Kontakt zu treten. Schon in der kritischen Würdigung der Erkenntnistheorie Descartes‘ - konkret im Zusammenhang mit seiner Begründung der Existenz Gottes - erwies sich diese Vorstellung als unhaltbar. Kirchmann nannte das „die Verwechselung des bloß vorgestellten Seins mit dem wirklichen“. Mit seinen eigenen Ausführungen zu der Beziehung zwischen Gedanken und Ideen einerseits und Eindrücken andererseits legt Hume die Grundlage für seine empiristische Erkenntnistheorie: Über das wirkliche Sein können wir nur auf der Grundlage von Eindrücken‚ Empfinden und Wahrnehmen etwas erfahren. Gedanken und Ideen müssen wie durch eine nährende Nabelschnur über die Wahrnehmungen mit der wirklichen Welt verbunden sein‚ wenn sie Realitätsgehalt sollen haben können. Wo es um Welterkenntnis geht‚ hat sich Kant etwas später auf dieselbe Weise gegen erfahrungsunabhängiges Denken gewandt‚ mit dem Diktum Gedanken ohne Inhalt sind leer.60
4. Zweifel an der Erkennbarkeit der Kausalität:
Der Kern von Humes Erkenntnistheorie
Den Abschnitt III („Über die Assoziation der Ideen“) nennt Streminger in seiner Kommentarschrift zur Enquiry „ein bis zur Unkenntlichkeit geschrumpftes Überbleibsel eines früheren großen Entwurfs“‚ nämlich einer „hochinteressanten Relationentheorie“ aus dem Treatise.61 Hume kommt an der zitierten Stelle mit der Einschätzung zu Wort‚ seine Ausführungen zu den Gesetzmäßigkeiten der Vorstellungsassoziation müssten leicht einsehen lassen‚ „wie weitreichende Folgen die Entdeckung dieser Gesetzmäßigkeiten für die Wissenschaft von der menschlichen Natur haben muß‚ wenn man bedenkt‚ daß sie allein es sind‚ die in unserem Geist die Teile des Universums zu einem Bilde zusammenfügen … ; sie sind für uns der wirkliche Zement des Universums“.