Plädoyer für eine realistische Erkenntnistheorie. Jürgen Daviter
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2. Vertiefung der Erkenntnistheorie nach den Meditationen
1641‚ vier Jahre nach seiner Abhandlung‚ erscheinen seine Meditationen über die Grundlagen der Philosophie42 - ebenfalls ein kleines Werk von nur ungefähr 80 Seiten. Indem Descartes den Themenkreis seiner Abhandlung wieder aufgreift‚ will er noch einmal die „Fragen über Gott und die menschliche Seele und zugleich die Grundlagen der ganzen Philosophie behandeln“ (Med.‚ S. 29). Mit den „Grundlagen der ganzen Philosophie“ sind die Fundamente der Wahrheitserkenntnis gemeint. In der zweiten Meditation betont Descartes zunächst seine Absicht‚ sich von den bisher üblichen Begriffserörterungen zu verabschieden. Er schreibt: „Wofür habe ich mich bisher gehalten? - Für einen Menschen. - Aber was ist der Mensch? Soll ich sagen: ein vernünftiges Tier? - Nein; denn ich müßte dann untersuchen‚ was ein Tier und was vernünftig ist‚ und so geriete ich aus einer Frage in mehrere und schwierigere. Auch habe ich nicht so viel Muße‚ um sie mit solchen Spitzfindigkeiten zu vergeuden; vielmehr will ich lieber betrachten‚ was von selbst und unter Leitung der Natur meinem Denken bisher aufstieß‚ so oft ich mich selbst betrachtete.“ (Med.‚ S. 42.) Descartes will seine Zeit also nicht mit Spitzfindigkeiten wie begrifflichen Wesensbestimmungen in Form von Was-ist-Fragen vergeuden. Wahrnehmbare Aspekte des Seins treten bei ihm deutlich in den Vordergrund und verdrängen reine Begriffserörterungen. Lange vor Hume und Kant und wie diese ist Descartes überzeugt‚ dass erfahrungsunabhängiges Denken‚ also „reine“ Metaphysik‚ nicht sicher zu wahren Erkenntnissen über die Welt führen kann.
Descartes beschäftigt sich auch in den Meditationen ausführlich mit seinem zentralen Satz ich denke‚ also bin ich. Am Ende einer längeren Betrachtung der Erkenntnismöglichkeiten am Beispiel einer realen Sache‚ nämlich des Wachses‚ fasst Descartes die Quintessenz seiner Überzeugung zusammen: „ … [E]s kann sein‚ daß das‚ was ich sehe‚ nicht wirklich Wachs ist; es ist selbst möglich‚ daß ich keine Augen habe‚ durch welche etwas gesehen wird; aber es ist unmöglich‚ daß‚ wenn ich sehe oder (was ich nicht für verschieden halte) wenn ich zu sehen denke‚ ich nicht selbst ein denkendes Etwas bin.“ (Med.‚ S. 48.) Und nur ein paar Seiten weiter‚ in der dritten Meditation‚ schreibt er: „ … [W]ie ich früher bemerkt habe‚ ist vielleicht das‚ was ich vorstelle und wahrnehme‚ nichts außerhalb meiner; aber dennoch bin ich gewiß‚ daß jene Arten des Denkens‚ die ich Wahrnehmung und bildliches Vorstellen nenne‚ als Arten des Denkens wenigstens in mir sind.“ (Med.‚ S. 50.) Descartes lässt also alle möglichen Zweifel an konkreten Wahrnehmungen zu‚ selbst Zweifel an der Existenz seiner Wahrnehmungsorgane. Aber er hat keinen Zweifel daran‚ zu sein‚ wenn er denkt zu sehen oder denkt zu sein. Man sieht: Es geht hier nicht um Wahrheit oder Falschheit einzelner Wahrnehmungen. Descartes bewegt sich mit diesen Überlegungen nicht auf der Ebene‚ auf der gefragt werden könnte‚ unter welchen Bedingungen die individuelle Wahrnehmung eines Gegenstandes oder Sachverhalts wahr sein müsste; auf dieser Ebene ginge es immer auch um das Problem der Konkurrenz zwischen den Wahrnehmungen verschiedener Personen zu ein und derselben Sache und um das Problem unterschiedlicher Begründungsmöglichkeiten. Nein‚ hier geht es um eine grundsätzliche Erkenntnis‚ für die Descartes den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt.
Descartes fragt sich dennoch‚ was denn für seine Überzeugung des ich denke‚ also bin ich eigentlich der Wahrheitsbeweis ist. Er kommt also auf die Frage nach einem allgemein gültigen Wahrheitskriterium zurück‚ und es zeigt sich‚ dass er bisher noch nicht scharf zwischen allgemeingültiger Wahrheit und persönlicher Gewissheit unterschieden hat: „Ich bin gewiß‚ daß ich ein denkendes Ding bin; aber weiß ich auch‚ was dazu gehört‚ daß ich einer Sache gewiß bin? Denn in jener ersten Erkenntnis ist nur ein klares und deutliches Wissen dessen‚ was ich behaupte. Dies könnte nicht hinreichen‚ mich von der Wahrheit dessen zu vergewissern‚ wenn es möglich wäre‚ daß etwas‚ was ich so klar und deutlich weiß‚ falsch sein könnte. Ich kann deshalb als allgemeine Regel aufstellen‚ daß alles wahr sei‚ was ich völlig klar und deutlich weiß“‚ (Med.‚ S. 50)‚ womit er einen Gedanken aus der Abhandlung wieder aufgreift. Wird er nun eine Lösung für die dort aufgekommenen Zweifel finden?
Es folgt eine sehr interessante Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Gedankengattungen‚ nämlich angeborenen‚ hinzugekommenen und selbst gebildeten Vorstellungen‚ deren Wahrheitsfähigkeit Descartes vergleicht. (Med.‚ S. 52 ff..) Von den hinzugekommenen sagt er‚ es seien diejenigen‚ „welche ich als von den außer mir seienden Dingen entlehnt betrachte‚ …“. Er würde dabei „von der Natur so belehrt“‚ und die Vorstellungen könnten auch nicht von seinem Willen abhängen; beispielsweise fühle er die Wärme des Feuers‚ auch ohne es zu wollen‚ und es dränge sich ihm der Gedanke auf‚ dass der Gegenstand ihm seine Ähnlichkeit einflöße. (Med.‚ S. 53.) In diesen Vorstellungen erscheinen bei Descartes schon die Vorahnungen der Evolutionären Erkenntnistheorie‚ insbesondere die Idee‚ dass die Sinneseindrücke eine einigermaßen genaue Vorstellung von den Dingen vermitteln‚ von denen sie herrühren (s. dazu das letzte Kapitel). Das kommt am Anfang des folgenden Zitats noch klarer zum Ausdruck‚ in dem er dann eine Unterscheidung vornimmt‚ die für seine Erkenntnistheorie von großer Bedeutung ist.
„Wenn ich hier sage‚ ich sei von der Natur so belehrt‚ so meine ich damit nur‚ daß ich durch einen unwillkürlichen Trieb zu diesem Glauben gebracht werde‚ und nicht‚ daß es mir durch ein natürliches Licht als wahr gezeigt worden‚ was zwei sehr verschiedene Dinge sind. Denn alles‚ was durch das natürliche Licht mir gezeigt wird‚ wie daß aus meinen Zweifeln mein Dasein folgt und ähnliches‚ kann in keiner Weise zweifelhaft sein‚ weil es kein anderes Vermögen gibt‚ welchem ich so vertraue wie diesem Licht‚ ….“ (Med.‚ S. 53.) Ob das natürliche Licht etwas ist‚ in dem man endgültig klar und deutlich sehen kann‚ oder ob es als Synonym zu klar und deutlich sehen gemeint ist‚ braucht nicht geklärt zu werden; mit beiden Vorstellungen kommt Descartes an einem vorläufigen Ende seiner Wahrheitsbegründung an‚ das ihn sich der Wahrheit absolut gewiss sein lässt - aber doch wieder nur an einem vorläufigen.
Denn ebenso wie in der Abhandlung ist Descartes auch in den Meditationen nicht damit zufrieden‚ schon an dieser Stelle die Begründungskette enden zu lassen‚ so evident ihm die Bedeutung des natürlichen Lichts oder des klar und deutlich sehen auch sein mag. Er weiß‚ dass Evidenz nicht ausreicht‚ kein sicherer Ausgangspunkt seiner Begründungskette sein kann und dass er die