Plädoyer für eine realistische Erkenntnistheorie. Jürgen Daviter
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Plädoyer für eine realistische Erkenntnistheorie - Jürgen Daviter страница 8

36 Zu Einzelheiten s. Gerhard Vollmer‚ Biophilosophie‚ (Reclam) Stuttgart 1995‚ S. 99-101.
37 Karl R. Popper‚ Die beiden Grundprobleme‚ a. a. O.‚ S. 57.
II. Descartes’ Erkenntnistheorie:Der Beginn der Moderne
Die Frage nach den Grundlagen der Erkenntnis war vor Descartes noch nie so rein gestellt und für sich behandelt worden. Kein Wunder also‚ daß dieses Werk‚ welches plötzlich die ausgetretenen Wege verließ‚ eine tiefe Erregung innerhalb der Geister hervorbrachte‚ deren Wirkungen durch die späteren Jahrhunderte überall sichtbar sind und diese Frage nach den Fundamenten und den Grenzen der menschlichen Erkenntnis zu der wichtigsten erhoben haben‚ womit seitdem die Philosophie sich beschäftigt hat.
Johann Heinrich von Kirchmann
René Descartes‚ Philosoph‚ Mathematiker und Naturforscher‚ entwirft 1628 die „Regeln zur Leitung des Verstandes“. 1637 fasst er sie in seiner kleinen Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung38 zusammen und stellt uns damit eine Methode zum Erwerb rational begründeter wahrer wissenschaftlicher Erkenntnis vor. Die Abhandlung gilt als eine der folgenreichsten Schriften der philosophischen Weltliteratur; Descartes wird als Begründer der modernen Philosophie angesehen.39 Bis zu seiner Zeit hatten die Philosophen die Aufgabe der Metaphysik in erster Linie darin gesehen‚ das Wesen der Wirklichkeit zu erkennen. Die Aufgabe der Wirklichkeitserkenntnis wurde mehr und mehr von einer sich von der Metaphysik abspaltenden Naturwissenschaft übernommen. „Philosophen‚ die diesen Anspruch anerkannten‚ zogen die Konsequenz‚ dass die Metaphysik nicht mehr als Lehre vom Sein‚ sondern als Theorie der Seinserkenntnis aufzufassen sei …. Descartes hatte das Problem der objektiven Gültigkeit‚ vor allem in Bezug auf naturwissenschaftliche Theorien‚ vor Augen‚ ….“40 In diesem Sinne machte Descartes den ersten großen Schritt auf dem Weg der Philosophie hin zu einer empiristischen Erkenntnistheorie - ein guter Grund‚ mit ihm zu beginnen.
Zunächst soll an Hand der Abhandlung kurz geklärt werden‚ was für einen Wahrheitsbegriff Descartes hat‚ welche Rolle der Mensch für die Erkenntnis der Wahrheit spielt‚ nach welcher Logik Descartes seine Erkenntnistheorie aufbaut und was er für die Quellen‚ Kriterien und Beweise der menschlichen Erkenntnis hält. Danach wird mit einem Blick in seine Meditationen die Frage nach Descartes’ Vorstellungen zur Wahrheitserkenntnis vertieft und beides am Ende einer kritischen Würdigung unterzogen.
1. Kurzer Abriss der Erkenntnistheorie nach der Abhandlung
Descartes beschreibt seinen grundlegenden und vollkommen neuen erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt besonders klar und kompakt in der folgenden Passage: „Aber weil ich damals bloß der Erforschung der Wahrheit leben wollte‚ so meinte ich … alles‚ worin sich auch nur das kleinste Bedenken auffinden ließe‚ als vollkommen falsch verwerfen [zu müssen]‚ um zu sehen‚ ob danach nichts ganz Unzweifelhaftes in meinem Fürwahrhalten übrigbleiben würde. So wollte ich‚ weil unsere Sinne uns bisweilen täuschen‚ annehmen‚ daß kein Ding so wäre‚ wie die Sinne es uns vorstellen lassen; und weil sich manche Leute in ihren Urteilen selbst bei den einfachsten Materien der Geometrie täuschen und Fehlschlüsse machen‚ so verwarf ich‚ weil ich meinte‚ dem Irrtum so gut wie jeder andere unterworfen zu sein‚ alle Gründe als falsch‚ die ich vorher zu meinen Beweisen genommen hatte; endlich‚ wie ich bedachte‚ daß alle Gedanken‚ die wir im Wachen haben‚ uns auch im Schlaf kommen können‚ ohne daß dann einer davon wahr sei‚ so machte ich mir absichtlich die erdichtete Vorstellung‚ daß alle Dinge‚ die jemals in meinen Geist gekommen‚ nicht wahrer seien als die Trugbilder meiner Träume.“ (Abh.‚ S. 30 f..)
Descartes beschreibt sich also als jemanden‚ der „bloß der Erforschung der Wahrheit leben wollte“. Es lässt sich leicht eine korrespondenztheoretische Vorstellung von der Wahrheit erkennen‚ denn er spricht von seinem „Fürwahrhalten“‚ von „Urteilen“‚ die wahr oder falsch sein könnten‚ ja sogar direkt von einem „Satz“‚ den er „als wahr und gewiß erkannte“ (Abh.‚ S. 32). Wahr oder nicht wahr sind für Descartes also nicht wie typischerweise in essentialistischen Versionen (vgl. oben unter I.1.) die Wirklichkeit an sich („Wesenswahrheit“)‚ sondern Aussagen über die Wirklichkeit („Urteilswahrheit“). Dadurch bekommt der Mensch eine aktivere Rolle für den Erkenntnisprozess‚ als bis dahin üblich war. Die Suche nach der Wahrheit wird für Descartes zwingend eine Aufgabe des Menschen: Dieser kann sich nicht darauf verlassen‚ dass sich ihm die Wahrheit auch ohne gründliche Betrachtung der Wirklichkeit ohne Weiteres offenbart oder dass sie in reiner Begriffsanalyse gefunden werden kann.
Schon damit betrat Descartes einen neuen philosophischen Weg. Darüber hinaus lag in seiner Ausgangsposition für die Erforschung der Wahrheit‚ nämlich dem Zweifel an allem‚ was er bisher für wahr gehalten hatte‚ ein radikaler Bruch mit der überkommenen Philosophie. Descartes machte im wahrsten Sinne des Wortes tabula rasa‚ um sich so auf die Suche nach irgendetwas sicher Wahrem zu machen.
Und Descartes war überzeugt‚ es gefunden zu haben‚ wie er direkt im Anschluss an die gerade zitierte längere Passage sagt: „Alsbald aber machte ich die Beobachtung‚ daß‚ während ich so denken wollte‚ alles sei falsch‚ doch notwendig ich‚ der das dachte‚ irgend etwas sein müsse‚ und da ich bemerkte‚ daß diese Wahrheit »ich denke‚ also bin ich« (je pense‚ donc je suis; Ego cogito‚ ergo sum‚ sive existo) so fest und sicher wäre‚ daß auch die überspanntesten Annahmen der Skeptiker sie nicht zu erschüttern vermöchten‚ so konnte ich sie meinem Dafürhalten nach als das erste Prinzip der Philosophie‚ die ich suchte‚ annehmen.“ (Abh.‚ S. 31.)
Daraufhin versuchte Descartes‚ seine vermeintlich sicher wahre Vorstellung über diesen Satz hinauszuführen. Er hielt den Satz Ich denke‚ also bin ich deswegen für wahr‚ weil er ihn „ganz klar“ eingesehen hatte. So meinte er nun verallgemeinernd schließen zu können‚ „daß die Dinge‚ welche wir sehr klar und deutlich … begreifen‚ alle wahr sind“‚ sah aber sofort „einige Schwierigkeit“‚ „wohl zu bemerken‚ welches die Dinge sind‚ die wir deutlich begreifen“. (Abh.‚ S. 32) Doch selbst‚ wenn diese Schwierigkeit vermeintlich zweifelsfrei zu überwinden wäre‚ blieb für Descartes ein nicht nur in unseren Gedanken‚ sondern in Wirklichkeit existierender Gott der letzte und notwendige Garant für die Wahrheit unseres Wissens: „Denn vor allem ist selbst jener Satz‚ den ich eben zur Regel genommen habe: daß nämlich alle Dinge‚ die wir sehr klar und sehr deutlich begreifen‚ wahr sind‚ nur deshalb sicher‚ weil Gott ist oder existiert und weil er ein vollkommenes Wesen ist und alles in uns von ihm herrührt. Daraus aber folgt‚ daß unsere Ideen oder Begriffe‚ da sie wirkliche Wesen sind‚ die von Gott kommen‚ soweit sie klar und deutlich sind‚ wahr sein müssen… . Aber wenn wir nicht wüßten‚ daß alles Wirkliche und Wahrhafte in uns von einem vollkommenen und unendlichen Wesen herrührte‚ so hätten wir‚ wie klar und deutlich unsere Ideen auch wären‚ noch keinen sicheren Grund dafür‚ daß sie die Vollkommenheit hätten‚ wahr zu sein.“ (Abh.‚ S. 37.) In der Abhandlung führt Descartes den notwendigen Beweis für die Existenz Gottes nur andeutungsweise‚ z. B. dadurch‚ dass er die Existenz Gottes als eines vollkommenen Wesens aus seiner (Descartes‘) eigenen Unvollkommenheit herleitet. (Abh.‚ S. 33.) Diesem Ziel sind die Meditationen wesentlich ausführlicher und mit anderen Beweisgründen gewidmet (s. u.).
Descartes beschreibt auch in Umrissen seine Prinzipien der empirischen Forschung.