Plädoyer für eine realistische Erkenntnistheorie. Jürgen Daviter
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Plädoyer für eine realistische Erkenntnistheorie - Jürgen Daviter страница 6
Subjektive Wahrheit - genau genommen ein Widerspruch in sich - im Sinne von Gewissheit‚ Überzeugung oder Fürwahrhalten ist erkenntnistheoretisch und wissenschaftlich belanglos. „Der Umstand‚ daß ein Satz einigen oder sogar allen Menschen «selbstevident» zu sein scheint‚ d. h. der Umstand‚ daß einige Menschen oder alle Menschen fest an seine Wahrheit glauben und seine Falschheit undenkbar finden‚ dieser Umstand ist kein Grund für die Wahrheit des Satzes. (Wenn uns die Falschheit eines Satzes undenkbar zu sein scheint‚ so ist das oft nur ein Grund für den Verdacht‚ daß unsere Vorstellungskraft mangelhaft oder unentwickelt ist.) Es ist einer der schwersten Irrtümer‚ wenn eine Philosophie die Selbstevidenz eines Satzes als ein Argument zugunsten seiner Wahrheit anführt; aber so gehen fast alle idealistischen Philosophen vor. Was zeigt‚ daß idealistische Philosophien oft Apologien sind für gewisse dogmatische Glaubensannahmen.“29 Auch Reichenbach hat das Streben nach Gewissheit mehr als nüchtern beurteilt: „Die Suche nach Gewißheit ist eine der gefährlichsten Irrtumsquellen‚ weil sie mit der Behauptung einer höheren Art von Erkenntnis verbunden ist.“30
Der Unterschied zwischen Wahrheit und Gewissheit ist schon vor zweieinhalbtausend Jahren Xenophanes (ungefähr 565-470) bewusst gewesen‚ wie er es in den folgenden Zeilen beschreibt:
„Selbst wenn es einem auch glückt‚
Die vollkommenste Wahrheit zu künden‚
Wissen kann er sie nie:
Es ist alles durchwebt von Vermutung.“31
Wenn man von der erkenntnistheoretischen Hypothese absieht‚ die in diesen Zeilen steckt (und die hier noch nicht zur Diskussion steht)‚ dann kann man sich auf folgenden Gedanken konzentrieren: „…Xenophanes lehrt hier‚ daß etwas‚ das ich sage‚ wahr sein kann‚ ohne daß ich oder sonst jemand weiß‚ daß es wahr ist. Das heißt aber‚ daß die Wahrheit objektiv ist: Wahrheit ist die Übereinstimmung dessen‚ was ich sage‚ mit den Tatsachen‚ ob ich nun weiß oder nicht‚ daß diese Übereinstimmung besteht. Das bedeutet aber‚ daß die Übereinstimmung unabhängig von meinem Wissen besteht: Die Wahrheit ist objektiv; ….“32 „Zum vollen Verständnis von Xenophanes’ Theorie der Wahrheit ist es besonders wichtig zu betonen‚ daß er die objektive Wahrheit von der subjektiven Sicherheit deutlich unterscheidet. Die objektive Wahrheit ist die Übereinstimmung einer Aussage mit den Tatsachen‚ ob wir das nun wissen - sicher wissen - oder nicht. Die Wahrheit darf also nicht mit der Sicherheit oder mit dem sicheren Wissen verwechselt werden.“33 Der Begriff des sicheren Wissens ist leider etwas unscharf‚ weil er dem Wissen durch das Beiwort „sicher“ sprachlich eine objektive Note gibt; er könnte also genauso gut als Synonym für „objektiv gesichertes Wissen“ und dann auch im Sinne von Wahrheit verstanden werden. Aus dem Kontext der Argumentation ergibt sich allerdings ganz klar‚ dass mit „sicherem Wissen“ eben nur die starke Überzeugung‚ also die subjektive Gewissheit gemeint ist.
Wir sollten eine klare Vorstellung vom Begriff der Wahrheit haben und deutlich zwischen subjektiver Gewissheit und objektiver Wahrheit unterscheiden. Der korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff in der Formulierung‚ ein Satz sei wahr‚ wenn er mit der Wirklichkeit übereinstimmt‚ lässt denn auch keinen Raum für irgendeine subjektivistische Vorstellung von Wahrheit im Sinne von Gewissheit. Doch das zentrale Problem der Erkenntnistheorie ist nicht‚ was man unter Wahrheit versteht‚ auch nicht der Unterschied zwischen subjektiver Gewissheit und objektiver Wahrheit‚ nicht einmal‚ ob es Wahrheit überhaupt gibt oder nicht; denn dass es sie gibt‚ darf und muss man - unter der Voraussetzung einer von sprachfähigen Wesen belebten wirklichen Welt - voraussetzen‚ und zwar im Sinne der Korrespondenztheorie der Wahrheit. Das zentrale Problem ist vielmehr‚ ob die Wahrheit - und wenn ja: auf welche Weise - unbezweifelbar zu erkennen ist‚ und wenn nicht‚ welches darunter liegende Maß an Sicherheit und Zuverlässigkeit unserer Erkenntnisse erreichbar ist. Die zentrale Frage der Erkenntnistheorie ist die Frage nach der Erreichbarkeit von Objektivität im Sinne von sicherer Allgemeingültigkeit unserer Vorstellungen über die Welt.
5. Realität‚ Objektsprache und Metasprache
Wenn wir über die Korrespondenz zwischen einem Sprachgebilde und einer Tatsache reden‚ benutzen wir eine besondere Sprache.34 Die Sprache‚ in der wir über Tatsachen reden‚ z. B. dass die Erde sich dreht‚ nennt man Objektsprache. Die Sprache‚ in der wir - eine Ebene darüber - über solche objektsprachlichen Gebilde reden‚ nennt man Metasprache. Objektsprache: »Die Erde dreht sich.« Metasprache: ‚Der Satz »Die Erde dreht sich.« ist wahr.‘ Dieser Satz der Metasprache kann auf einer darüber liegenden Sprachebene (Meta-Metasprache) selbst wieder zum Gegenstand einer Aussage werden. Beispiel: „Das Sprachgebilde ‚Der Satz »Die Erde dreht sich.« ist wahr.‘ ist eine Sachaussage und kein Werturteil.“35
Nun muss auch klar sein‚ dass wissenschaftliche Aussagen einerseits und erkenntnistheoretische und wissenschaftstheoretische Aussagen andererseits zueinander stehen wie objektsprachliche Aussagen und metasprachliche Aussagen: Die wissenschaftlichen Aussagen als objektsprachliche Aussagen über die Welt werden ihrerseits zum Objekt der erkenntnistheoretischen Aussagen. In den Wissenschaften wird überprüft‚ ob sich Dinge so verhalten‚ wie in Theorien (Hypothesen) angenommen wird. Auf der erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Ebene werden die wissenschaftlichen Aussagen beurteilt und bewertet‚ beispielsweise hinsichtlich ihrer Prüfbarkeit‚ Bewährung und schließlich der Vertretbarkeit von Wahrheitsansprüchen.36 Im Sinne dieses Objektcharakters der Wissenschaft kann man sagen: „Erkenntnistheorie verhält sich zur Naturwissenschaft ähnlich‚ wie diese zur Erfahrungswelt.“37 In einer gewissen Arbeitsteilung geht es in der Erkenntnistheorie eher um die Möglichkeiten und Grenzen von Erkenntnis überhaupt‚ während in der Wissenschaftstheorie eher die methodologischen Möglichkeiten erörtert werden‚ die Grenzen möglicher Erkenntnis auszuschöpfen.
Die hier besprochene Unterscheidung zwischen Ebene und Metaebene kann uns helfen‚ die Bedeutung des Unterschieds zwischen Wissenschaft und Erkenntnistheorie besser zu verstehen. Die Wissenschaftler dürfen den Erkenntnistheoretikern sagen: „Ihr mögt euch den Kopf zerbrechen‚ soviel ihr wollt: Die einzigen Erkenntnisse‚ auf die es letztlich ankommt‚ sind die Erkenntnisse über die Wirklichkeit selber. Nur sie können uns helfen‚ unser Leben zu bewältigen.“ Die Erkenntnistheoretiker können ihnen aber antworten: „Ihr könnt euch auf euren Wegen mit euren hausgemachten praktischen und Denkmethoden bemühen‚ so viel ihr wollt: Ohne unsere wohldurchdachten Ratschläge‚ welche Wege ihr einschlagen und wie ihr prinzipiell vorgehen müsst‚ d. h. wie und wonach ihr suchen müsst‚ würdet ihr doch nur im Dunkeln tappen und völlig unsicher bleiben‚ was ihr von euren Entdeckungen zu halten habt.“ Aber können wir uns denn auf die Erkenntnistheoretiker verlassen? In diesem Sinne mag hier der erste Satz des Vorwortes wiederholt werden. Dies ist die Leitfrage des Buches: Was bleibt als eine realistische Einschätzung unserer Erkenntnismöglichkeiten übrig‚ wenn wir einige der wichtigsten Erkenntnistheorien der Neuzeit auf den Prüfstand stellen?
1 Ein ganz spezieller Unterschied zwischen dem essentialistischen und nominalistischen Begriffsverständnis wird im folgenden Zitat anschaulich beschrieben: „Während die essentialistische Interpretation eine