Plädoyer für eine realistische Erkenntnistheorie. Jürgen Daviter
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So klar verständlich und einleuchtend die korrespondenztheoretische Version des Wahrheitsbegriffs auch scheinen mag‚ so sehr ist sie doch in den Strudel großer Begriffsverwirrungen geraten. Das liegt daran‚ dass die Frage‚ was wir unter dem Begriff ‚wahr‘ verstehen sollten‚ mit dem Problem vermischt wurde‚ wie wir feststellen können‚ was wahr ist. Ein Ausgangspunkt der Kritik am korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff ist‚ dass in ihm eine Beziehung zwischen einem Satz‚ also Sprache‚ und der Wirklichkeit hergestellt wird. Und der diesbezügliche Einwand lautet‚ dass auch die Wirklichkeit selber nicht anders als sprachlich dargestellt werden kann: Es gibt für die Wahrnehmung des Menschen keine „nackte“‚ an sich bestehende Wirklichkeit‚ an der dann die Wahrheit der Aussage überprüft werden könnte‚ sondern eine immer schon sprachlich formulierte Wirklichkeit. Habermas nennt die Wirklichkeit folgerichtig und griffig „sprachimprägniert“ und stellt diese anerkannte Tatsache kritisch der „Intuition [gegenüber]‚ von der das ontologische Paradigma gelebt hatte: daß die Wahrheit der Urteile durch eine in der Wirklichkeit selbst begründete Korrespondenz mit der Wirklichkeit verbürgt ist“19. „Weil wir unsere Sätze mit nichts konfrontieren können‚ was nicht selber schon sprachlich imprägniert ist‚ lassen sich keine Basisaussagen auszeichnen‚ die in der Weise privilegiert wären‚ dass sie sich von selbst legitimieren und als Grundlage einer linearen Begründungskette dienen könnten.“20 Der korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff wird also mit dem Argument kritisiert‚ dass er keinen gangbaren Weg zur Wahrheit eröffne. Dadurch wird die Diskussion über den Begriff der Wahrheit ohne Not mit der Diskussion über Wahrheitskriterien verbunden. Sinnfällig kommt diese Vermischung darin zum Ausdruck‚ dass Habermas in dem zitierten Kapitel Abschnitte über den semantischen‚ epistemischen und pragmatischen Wahrheitsbegriff bringt‚ sich darin aber vorrangig über die Erreichbarkeit der Wahrheit auslässt. Der Wahrheitsbegriff wird also bereits mit Problemen belastet‚ die er selber gar nicht aufwirft: Der korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff sagt nichts darüber aus - und will und soll es auch gar nicht -‚ ob und auf welche Weise „die Wahrheit der Urteile … verbürgt ist“. Beim Begriff der Wahrheit geraten Rechtfertigungsprobleme‚ das Hauptthema im zitierten Habermas-Aufsatz‚ also noch gar nicht ins Blickfeld. Dennoch führt bei Habermas und Apel die Kritik am korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff geradenwegs zu ihrem Konzept der Diskurstheorie‚ um der Sprache und der sprachlichen Verständigung bei der Wahrheitssuche den ihrer Meinung nach gebührenden Platz zu geben (s. ausführlich dazu Kapitel VII über die Konsenstheorie der Wahrheit).
Demgegenüber sollte unbedingt an der reinen Vorstellung der Wahrheit als Idee der zutreffenden Darstellung von Sachverhalten festgehalten werden‚ auch wenn keine Garantie für die Entdeckung der Wahrheit damit verbunden werden kann. Mehr noch: Die vielen zitierten Beispiele belegen‚ dass wir auch tatsächlich‚ und gerade in der Philosophie‚ immer schon eine Idee der Wahrheit hatten‚ ohne damit das Problem der Wahrheitsfindung zu verbinden. Ohne eine solche Idee könnten wir weder im praktischen Leben noch in der Erkenntnistheorie noch in der Wissenschaft auskommen: Wir wüssten sonst nicht einmal‚ wonach wir suchen und was wir tun sollten.
Schließlich finden wir im Kritischen Rationalismus sogar ein starkes Plädoyer für die Vernunft der Wahrheitsidee‚ obwohl er die Wahrheit als unerreichbar beschreibt. Unter anderem sehen Kritische Rationalisten eine letztlich unüberwindbare Hürde in demselben Phänomen‚ das Habermas als Sprachimprägniertheit der Wirklichkeit bezeichnet‚ wenn sie nämlich anerkennen‚ dass Sinneswahrnehmungen Anpassungsreaktionen und daher Deutungen seien‚ dass es also keine reine Wahrnehmung‚ kein reines Datum‚ geben könne‚ und dass alle Begriffe von Theorien und Mythen durchsetzt seien (s. ausführlich VIII. Kapitel unter 4.). Und dennoch bleibt die Vernunft einer Idee der Wahrheit von allen Problemen des Nachweises der Wahrheit unberührt.
Gegenüber der hier vorgeschlagenen Konzeption der Wahrheit im Sinne einer bestimmten Definition des Begriffs der Wahrheit finden wir insbesondere bei Hegel‚ aber auch noch in manchen zeitgenössischen Denkansätzen‚ eine ganz andere‚ geradezu entgegengesetzte Vorstellung von Wahrheit: Hegel schreibt:„Es ist aber nicht schwer einzusehen‚ daß die Manier‚ einen Satz aufzustellen‚ Gründe für ihn anzuführen und den entgegengesetzten durch Gründe ebenso zu widerlegen‚ nicht die Form ist‚ in der die Wahrheit auftreten kann. Die Wahrheit ist die Bewegung ihrer an ihr selbst‚ jene Methode aber ist das Erkennen‚ das dem Stoffe äußerlich ist.“21 „Es ist der Prozeß‚ der sich seine Momente erzeugt und durchläuft‚ und diese ganze Bewegung macht das Positive und seine Wahrheit aus.“22 Da Hegel Begriffe (also Sprache) und Wirklichkeit einander gleichsetzt (s. u. Kapitel V.3.[1])‚ kann er auch die Wahrheit als eine Eigenschaft der Sache selbst verstehen: Für ihn sind Dinge an sich wahr: „… die Sache ist; und sie ist‚ nur weil sie ist; sie ist‚ dies ist dem sinnlichen Wissen das Wesentliche‚ und dieses reine Sein oder diese einfache Unmittelbarkeit macht ihre Wahrheit aus.“23 Das reine Sein selbst macht in seiner Unmittelbarkeit seine eigene Wahrheit aus‚ die Wahrheit liegt also im „Wesen“ der Dinge selbst: ein Beispiel für die Vorstellung‚ die oben unter 1. (1) als essentialistisch bezeichnet und beschrieben wurde.
Dass Wahrheit und Falschheit demgegenüber als objektive Eigenschaften von Sätzen angesehen werden sollten‚ drückt Gottlob Frege so aus: „Man muss‚ wie mir scheint‚ daran erinnern‚ daß ein Satz ebensowenig aufhört‚ wahr zu sein‚ wenn ich nicht mehr an ihn denke‚ wie die Sonne vernichtet wird‚ wenn ich die Augen schließe.“24 Russell mag das Schlusswort in dieser Darstellung der kontroversen Ansichten zum Begriff der Wahrheit haben: „Nachdem wir nun festgestellt haben‚ was ‚Wahrheit‘ und ‚Falschheit‘ bedeuten‚ müssen wir überlegen‚ auf welche Weise sich erkennen läßt‚ ob diese oder jene uns vorgetragene Meinung wahr oder falsch ist.“25 „Vorgetragene Meinung“ kann man ersetzen durch „in einem Satz formulierte Sachbehauptung“. In diesem nicht-hegelianischen Sinne soll von nun an klar unterschieden werden zwischen dem Begriff der Wahrheit im Sinne der Korrespondenztheorie (Was heißt „wahr“?) einerseits und dem eigentlichen erkenntnistheoretischen Problem andererseits‚ nämlich möglichst herauszufinden‚ was wir im Prinzip und in konkreten Fällen als wahr betrachten dürfen (Was ist wahr?).26
4. Wahrheit‚ Gewissheit und Sicherheit der Erkenntnis
Wahrheit und Licht sind sich überall gleich‚ nur der Irrtum hat tausend Gestalten.
Isaiah Berlin
Der Begriff der Wahrheit verlangt eine Abgrenzung zum Begriff der Gewissheit. Der korrespondenztheoretische Begriff der Wahrheit zielt auf Objektivität und Allgemeingültigkeit: Wenn wir von einer nicht-chaotischen realen Welt ausgehen‚ dann muss es wahre Aussagen über die Welt geben‚ und zwar völlig unabhängig davon‚ wer sie äußert‚ wann sie geäußert wurden‚ und genauso unabhängig davon‚ ob wir wissen oder davon überzeugt sind‚ dass eine Aussage wahr ist oder nicht.
Wir können von der Wahrheit einer Aussage überzeugt sein‚ ihrer gewiss sein; trotzdem können andere zur selben Zeit von der Falschheit derselben Aussage überzeugt sein. Und nicht selten gibt es für die beiden einander widersprechenden Standpunkte gute Gründe. Also kann die jeweilige