Plädoyer für eine realistische Erkenntnistheorie. Jürgen Daviter
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In diesem Sinne könnte Platons Kratylos als eine frühe Parteinahme für den bescheidenen‚ erkenntnistheoretisch harmlosen Standpunkt des Nominalismus angesehen werden. Sie hätte dann aber keine bleibende Bedeutung gehabt; denn sein Schüler Aristoteles legte sich mit nachhaltiger Wirkung auf ein essentialistisches Begriffsverständnis fest‚ das bis ins hohe Mittelalter vorherrschte. Von Descartes‚ Hume und Kant sowie im Kritischen Rationalismus und in der Evolutionären Erkenntnistheorie wird es ausdrücklich abgelehnt. In Hegels Philosophie und noch in Gadamers Sprachverständnis und in seiner ganzen Hermeneutik spielt es aber eine herausragende Rolle und wird in den beiden Kapiteln ausführlich zu erörtern sein.
An dieser Stelle sollte die große erkenntnistheoretische Bedeutung des alternativen Umgangs mit Begriffen nur erst aufgezeigt werden. Poppers ganze Verzweiflung über den Essentialismus lässt sich erahnen‚ wenn man seinen Kommentar dazu liest: „Das Problem der Definitionen und des «Sinnes der Begriffe» … war eine unerschöpfliche Quelle von Verwirrung und jener eigentümlichen Kunst des Wortemachens‚ die sich im Geiste Hegels mit dem Historizismus vereinigte und dadurch jene giftgeschwängerte intellektuelle Zeitkrankheit erzeugte‚ die ich die orakelnde Philosophie nenne. Es ist außerdem … die Quelle all des wortreichen und leeren Scholastizismus‚ der nicht nur im Mittelalter sein Unwesen trieb‚ sondern auch unsere zeitgenössische Philosophie heimsucht; ….“7 Was es mit der „orakelnden Philosophie“ auf sich hat‚ wird ganz besonders im Hegel-Kapitel zur Diskussion stehen müssen.
In seinen eigenen Ausführungen verwendet der Verfasser Begriffe ausschließlich im nominalistischen Sinne. Darin liegt eine praktische Vorentscheidung‚ weil ein Autor die Bedeutung seiner eigenen Sprache nicht in der Schwebe halten sollte.
2. Erkenntnis und die philosophische Position des Realismus
Erkenntnis wird umgangssprachlich regelmäßig als sichere Erkenntnis verstanden‚ wobei aber doch die Sicherheit der Erkenntnis gerade das zentrale Problem jeder Erkenntnistheorie ist. Um Missverständnisse zu vermeiden‚ könnte man an Stelle von Erkenntnis zunächst einmal von Wissen sprechen; doch auch Wissen bedeutet semantisch eigentlich sicheres Wissen.8 Demgegenüber sollen Wissen und Erkenntnis hier zunächst als gut begründetes‚ d. h. möglichst methodisch gewonnenes sowie bewährtes Vermutungswissen über die Welt verstanden werden. Ob man über die zurückhaltende Position des Vermutungswissens hinauskommen kann‚ das ist die Kernfrage dieses Buches‚ und dazu werden im Folgenden verschiedene erkenntnistheoretische Denkansätze kritisch erörtert.
In jedem Fall setzt auch ein so verstandenes Wissen voraus‚ dass es eine reale Welt gibt und dass diese Welt nicht chaotisch ist. In diesem Sinne werden Objekte und ihre Eigenschaften‚ Zustände‚ Prozesse und Ereignisse erforscht‚ und es wird gefragt‚ aus welchen Gründen die Dinge so sind‚ wie sie sind‚ und sich so verhalten‚ wie sie es tun. Das Wissen darüber besteht aus Kenntnissen (Annahmen) über systematische‚ gesetzmäßige Zusammenhänge‚ also über Ursachen und ihre Wirkungen. Man sieht: Die Voraussetzung einer nicht chaotischen Welt ist für jede Erkenntnis zwingend‚ weil es in einer chaotischen Welt keine Gesetzmäßigkeiten geben könnte‚ man aus ihr also auch nichts lernen und von ihr nichts wissen könnte.
Die Ansicht‚ dass es eine wirkliche Welt mit ebenso wirklichen Dingen und Ereignissen gibt‚ nennt man Realismus‚ oft auch ganz bescheiden hypothetischen Realismus‚ denn es ist eine philosophische Position‚ die selbst nicht beweisbar ist (dazu Näheres insbesondere im Kapitel über Hume). Der hypothetische Realismus „sieht selbst die Existenz der Welt nur als eine (wohl begründete) Vermutung an und versucht‚ Argumente zur Stützung dieser Hypothese zu finden.“9 Es sollte allerdings leicht fallen‚ solchen Argumenten zu vertrauen‚ denn „[a]ller Realismus im Sinne einer realistischen Grundhaltung ist Ausdruck der fundamentalen Tatsache‚ dass ohne die Annahme einer realen‚ wirklich existierenden Welt (= Summe realer Vorkommnisse) unser gesamter Lebenszusammenhang‚ alle Erfahrungen‚ Handlungen sowie der Umstand‚ daß wir miteinander kommunizieren (können)‚ nicht nur sinnentleert‚ sondern gänzlich unbegreiflich wäre.“10 Und Hume schreibt: „Es scheint offenkundig‚ dass die Menschen durch einen natürlichen Instinkt oder eine Voreingenommenheit zum Vertrauen in ihre Sinne gebracht werden‚ und dass wir ohne jegliches Denken‚ ja selbst fast vor dem Gebrauch der Vernunft‚ immer eine Außenwelt annehmen‚ die nicht von unserer Perzeption abhängt‚ sondern auch existieren würde‚ wenn wir und jedes vernünftige Geschöpf nicht vorhanden oder vernichtet worden wären.“11
Aus all diesen guten Gründen hat Nicolai Hartmann seine Grundzüge der Metaphysik der Erkenntnis mit dem Satz begonnen: „Die nachstehenden Untersuchungen gehen von der Auffassung aus‚ dass Erkenntnis nicht ein Erschaffen‚ Erzeugen‚ oder Hervorbringen des Gegenstandes ist‚ wie der Idealismus alten und neuen Fahrwassers uns belehren will‚ sondern ein Erfassen von etwas‚ das auch vor aller Erkenntnis und unabhängig von ihr vorhanden ist.“12 In der Evolutionären Erkenntnistheorie findet diese Position des hypothetischen Realismus und eine darin eingebettete Erkenntnistheorie übrigens eine eindrucksvolle empirische Unterstützung (s. dazu das letzte Kapitel).
3. Begriff der Wahrheit
Ist auf diese Weise die Existenz einer realen‚ nichtchaotischen Welt vorausgesetzt‚ lässt sich eine nachvollziehbare Definition des Begriffs der Wahrheit vorschlagen: Ein Satz ist wahr‚ wenn er mit den Tatsachen oder mit der Wirklichkeit übereinstimmt‚ mit ihr „korrespondiert“: „Die Aussage ‚Schnee ist weiß‘ ist wahr genau dann‚ wenn Schnee weiß ist.“13 Diese Konzeption der Wahrheit wird von Alfred Tarski‚ ihrem modernen Begründer‚ „Korrespondenztheorie der Wahrheit“ genannt (obwohl Tarski selber den Begriff nicht für sich reklamiert‚ s. Tarski‚ S. 143). Es ist ganz wichtig‚ genau zu verstehen‚ was es mit der Korrespondenztheorie der Wahrheit auf sich hat; denn der Begriff wird oft überinterpretiert. Tarski selbst nennt das Hauptproblem seines Aufsatzes eine befriedigende Definition des Begriffs der Wahrheit: „Unsere Diskussion kreist um den Begriff der Wahrheit. Das Hauptproblem ist eine befriedigende Definition dieses Begriffs‚ … .“ (Tarski‚ S. 141) Es geht also um einen Vorschlag darüber‚ wie man den Begriff der Wahrheit verstehen sollte‚ nicht um die erkenntnistheoretisch letztlich entscheidende Frage‚ wie wir die Wahrheit über die Dinge herausfinden können‚ ob es also sichere Kriterien der Wahrheit gibt.
Die Korrespondenztheorie der Wahrheit hat eine sehr alte Tradition; sie reicht mindestens bis auf Aristoteles zurück: Tarski (S. 142 f.) möchte‚ dass seine „Definition den Intuitionen der klassischen aristotelischen Konzeption der Wahrheit gerecht wird - die ihren Ausdruck in den wohlbekannten Worten der Metaphysik des Aristoteles finden: Von etwas‚ das ist‚ zu sagen‚ daß es nicht ist‚ oder von etwas‚ das nicht ist‚ daß es ist‚ ist falsch‚ während von etwas‚ das ist‚ zu sagen‚ daß es ist‚ oder von etwas‚ das nicht ist‚ daß es nicht ist‚ wahr ist.“ Auch Kant ist ein Vertreter dieser korrespondenztheoretischen Version der Wahrheit: „Was ist Wahrheit? Die Namenerklärung der Wahrheit‚ daß sie nämlich die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande sei‚ wird hier geschenkt‚ und vorausgesetzt; man verlangt aber zu wissen‚ welches das allgemeine und sichere Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis sei.“14 Auch Kant unterscheidet also ausdrücklich zwischen Namenerklärung‚ also Definition des Begriffs der Wahrheit‚ und Kriterium der Wahrheit‚ also dem‚ woran man das Vorliegen der Wahrheit erkennen kann.
Die Implikationen des korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriffs hat Bertrand Russell mit den folgenden drei Aspekten umrissen: „1) Unsere Theorie muß auch das Gegenteil der Wahrheit‚ die Falschheit‚ zulassen. … 2) … In der Tat