Windmühlentage. Katrin Köhl

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Windmühlentage - Katrin Köhl

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recht früh auch allein losgezogen. Mein Vater wusste lange Zeit nichts davon. Er hätte es nicht erlaubt. Als Grundschüler allein in Paris, mit zehn dann in Tallinn, das war kurz nach der Wende. Als ich dreizehn wurde, zogen wir nach Sankt Petersburg. Wie man Porträts malt, habe ich von den Straßenmalern auf dem Nevskij Prospekt gelernt.«

      Besonders fasziniert war Eva von Rubens Art, Sprachen zu lernen. In seinen Erzählungen hörte es sich an, als würde er sie einatmen wie die Gerüche eines Basars.

      »Hast du nie Vokabeln gelernt?«

      Ruben schüttelte den Kopf.

      »Sprache ist für mich Teil eines Ganzen. Wenn ich unterwegs bin, mache ich mich auf und lasse alles in mich einströmen: Farben, Geräusche, Gerüche. Die Menschen einer Stadt, eines Landes, ihre Kultur, die Geschichten, die ihr Leben prägen. Alles ist untrennbar miteinander verbunden, die Sprache steht nicht für sich.«

      Er trank einen Schluck, lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

      »Und du? Lernst du Vokabeln?«

      Eva strich mit dem Zeigefinger über eine Kerbe in der Tischplatte. Sie schaute Ruben nicht an.

      »Ich lese Wörterbücher.«

      Würde er sie auslachen? Normalerweise erzählte Eva niemandem von ihrer Leidenschaft für fremde Sprachen, deren Grammatik und Etymologie. Nicht einmal ihr Vater wusste von der Menge an Wörterbüchern und Sprachlehrwerken aller Epochen, die sich in Evas Zimmer stapelten. Einzig ihre Freundin Giulietta war eingeweiht. Mit der jüngsten Tochter von Signor Bertoni, dem Padrone des Bagno, hatte Eva als Kind in den Ferien gespielt und dabei Italienisch gelernt. Auch die Grundlagen des Lateinischen und Griechischen hatte Giulietta, die das altsprachliche Gymnasium besuchte, Eva beigebracht. Bis heute schrieben die Freundinnen sich Briefe, in denen sie über linguistische Themen fachsimpelten.

      Eva schob ihr Glas ein Stück zur Seite. Sie blickte zu Ruben.

      »Ich lese Grammatiken und Wörterbücher wie einen Roman. Mich interessieren Strukturen, Entwicklungslinien. Die Aussprache höre ich mir auf CDs an und versuche dann, herauszufinden, wie ein Laut genau gebildet wird, was ihn von den Lauten einer anderen Sprache unterscheidet. Am Ende entsteht dabei auch ein Gesamteindruck, aber es ist mehr wie ein Mosaik, das ich langsam zusammensetze.«

      Ruben schaute sie verwundert an. Dann nickte er.

      »Du kennst den Stadtplan.«

      »Was meinst du damit?«

      »Wenn ich in eine Stadt komme, finde ich intuitiv die Kirche, den Markt und den Platz, wo sich die Straßenmusiker treffen. Ein Plan verwirrt mich. Du hast den Stadtplan im Kopf. Und vermutlich weißt du immer, wo Norden ist.«

      So hatte Eva es noch nie betrachtet. Aber vielleicht beschrieb dieses Bild den Unterschied zwischen ihnen ganz gut. Ruben prostete ihr zu.

      »Zum Glück sind die Menschen und ihre Wahrnehmung verschieden. Sollten wir je zusammen verreisen, werden wir wunderbar zurechtkommen.«

      Sie hatten sich danach noch ein paarmal im Krokodil verabredet. Eva freute sich auf die Treffen mit Ruben. Sie fühlte sich leicht und unkompliziert, wenn sie mit ihm zusammen war, und genoss seine Aufmerksamkeit. Frank dagegen schien sich ihr mehr und mehr zu entziehen. Sie drängte auf gemeinsame Zeit, er tauchte immer öfter zu ihren Verabredungen nicht auf. Eines Abends rief er aus heiterem Himmel an und bestellte sie für den ersten Advent um sieben Uhr abends ins Cortina. Ein Treffen am Sonntag, dem Tag, der sonst immer der Familie vorbehalten gewesen war. Was mochte das bedeuten? Konnte sie es wagen zu hoffen? Hatten Frank und seine Frau einen letzten Versuch gemacht und sich nun doch getrennt? Vielleicht hatte er deshalb so wenig Zeit gehabt in den letzten Wochen. Er war mit der Trennung von seiner Frau beschäftigt. Jetzt war er frei für Eva. In der Woche vor dem Termin konnte sie kaum noch essen. Nachts schlief sie unruhig. Schließlich erzählte sie Ruben bei einem ihrer Treffen von Franks Anruf. Er hörte zu, sagte aber nichts.

      Am Morgen des ersten Advents wachte Eva früh auf. Sie versuchte, ein Kapitel in einer historischen französischen Grammatik zu lesen, aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Der Abend schien noch so unendlich weit weg zu sein. Lange stand Eva vor dem Kleiderschrank und überlegte, was sie anziehen konnte. Heute sollte ihr großer Tag sein. Das Warten der vergangenen Monate würde nicht umsonst gewesen sein.

      Viel zu früh saß sie an der Bar des Cortina. Von ihrem Weißwein trank sie nichts, ihr war ohnehin schon leicht schwindelig, weil sie den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Aufgeregt nestelte sie an ihrer Handtasche, holte den kleinen Spiegel heraus, prüfte ihr Make-up. Dann saß sie wieder vor ihrem Glas, schaute auf die Uhr neben der Eingangstür. Es war inzwischen halb acht. Im Lauf der nächsten halben Stunde trank Eva den Wein aus. Sie bestellte ein zweites Glas. Um halb neun hörte sie, wie die Tür zur Bar aufging. Sie drehte sich nicht um, versuchte, sich auf dem Barhocker aufzurichten, hielt das Weinglas mit spitzen Fingern. Dann spürte sie die Hand auf ihrem Arm.

      »Komm mit. Es tut dir nicht gut, wenn du hier noch länger sitzt.«

      Ruben. Er bezahlte Evas Wein und nahm ihre Hand. Sie spürte, dass ihr Tränen die Wange hinunterliefen. Auf dem Parkplatz holte er ein in Alufolie gewickeltes Päckchen aus seiner Tasche.

      »Ich habe dir Crêpe mit Schokolade mitgebracht. Würde mich wundern, wenn du heute schon etwas gegessen hättest.«

      Dankbar biss Eva in den eingerollten Pfannkuchen. Er war sogar noch warm. Ruben nahm wieder ihre Hand.

      »Du solltest auf andere Gedanken kommen. Möchtest du sehen, woran ich gerade arbeite?«

      Eva schaute ihn an, kaute. Langsam wich der Schwindel, sie fühlte sich etwas stabiler.

      »Ein Bühnenbild an der Oper?«

      »Nein, ein Auftrag in Nürtingen. Dort wird gerade ein altes Programmkino wiederhergerichtet. Ich bemale die Wände im Saal und im Café. Bist du mit dem Auto da? Wir könnten gemeinsam hinfahren.«

      Alles erschien besser, als an diesem Abend allein zuhause zu sitzen. Gemeinsam gingen sie zu Evas Polo. Sie schob das letzte Stück Crêpe in den Mund, warf die Alufolie in einen Mülleimer und öffnete die Autotür.

      Der Saal war nicht besonders groß. Zehn Stuhlreihen mit roten Plüschsitzen. An eine der Seitenwände hatte Ruben einen Projektor gemalt. Eine lange Filmrolle schlängelte sich über die gesamte Wand. An der gegenüberliegenden Wand prangten die Köpfe bekannter Regisseure. Eva erkannte Alfred Hitchcock, Martin Scorsese, Woody Allen. Im Vorraum, der einmal das Café werden sollte, entstand neben der Tür zum Saal eine Bar. Ein Teil der Holzkonstruktion war schon zu sehen. Daneben stapelten sich weitere Bretter und Werkzeug. Ansonsten war der Raum noch leer bis auf ein ausladendes Sofa mit geschwungenen Armlehnen und grünem Plüschbezug, das an einer Seite stand. An der Wand dahinter ein angefangenes Bild. Große Schauspieler vergangener Zeiten, die an Bistrotischen saßen oder an einer Bar standen. Eva betrachtete die Vorzeichnungen. Einzig Richard Burton und Elizabeth Taylor waren schon in Farbe zu sehen.

      Der Raum war kalt, Eva fröstelte. Sie zog ihren Mantel enger um sich, drehte sich zu Ruben um.

      »Es wird sicher großartig aussehen.«

      Er stand an der unfertigen Bar. Eva fuhr mit der Hand über die Sofalehne.

      »Danke, dass du mich mitgenommen hast. Ich …«

      Sie merkte, dass ihr wieder die Tränen kamen, wischte

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