Touch the Core. Die Tiefe berühren.. Thomas Andresen
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Ich unterscheide pränatales Erleben von pränatalem Erfahren:
• Alle unmittelbaren, direkt auf das Körperliche einwirkenden Einflüsse sind pränatales Erleben. Durch den Reiz kommt es als Antwort zu einer Veränderung der Steuerung des kindlichen Organismus. Beispiele sind die Ernährung der Mutter, aber auch Diagnostik, Komplikationen oder Eingriffe während der Schwangerschaft.
• Pränatale Erfahrungen entstehen aus den mittelbaren Einflüssen auf das Baby, vor allem dem emotionalen Erleben der Mutter. Sie lösen nur unmerkliche oder keine direkten körperlichen Reaktionen aus. Sehr wohl haben sie aber einen emotionalen Einfluss und prägen mitunter Verhaltensweisen und Glaubenssätze im späteren Leben dieses heranwachsenden Menschen. Eltern, die sich am wachsenden Bauch freuen, oder die Angst der Eltern vor der wachsenden Verantwortung sind solche Erfahrungen.
So bringt das Kind schon mit seiner Geburt eine Unmenge an Erfahrungen und Erlebnissen mit. Ein besonders prägendes Moment ist dann das Geburtserlebnis selbst. Geboren werden ist ein tiefgreifender Übergang von einem Zustand in einen anderen. Es ist der unvermeidbare Weg ins Unbekannte. Er führt durch die Enge und durch die Schwärze. Es gibt kein Zurück, keinen Kompromiss, keine Alternative. Hatte das Kind bis zu diesem Zeitpunkt im Bauch noch einen Rest an Bewegungs- und somit Handlungsmöglichkeit, so muss es nun die Kontrolle aufgeben, sich dem Prozess und seinem Mechanismus anvertrauen. Im Vorgang der Geburt wird etwas ins Leben gebracht, anderes zurückgelassen.
Der Fötus muss den Mutterkuchen zurücklassen, um geboren zu werden. Doch der Mutterkuchen war ein Teil der Ganzheit der befruchteten Eizelle. Ganzheitlich betrachtet ist dieser Verlust eine der Grundlagen für das menschliche Gefühl, allein, nicht verwurzelt, heimatlos zu sein.
Hier ist anteilig die älteste menschliche Frage „Wer bin ich?“ beheimatet. Die Geburt ist Ursprung für ein mangelndes Bewusstsein bzw. Gefühl von Verbundenheit, denn mit ihr wird der Übergang zum bewussten Erleben von Dualität eingeleitet. Aus diesem Moment rührt auch die Sehnsucht nach einem Gefühl des Zuhause-Seins her, die uns antreibt, Verbundenheit zu suchen. Für mich ist diese Suche nach einer Ganzheit auch die treibende Kraft, die zunehmend Begegnungsräume – bald mehr virtuell als in der Realität – entstehen lässt, in denen wir hoffen, wieder anzukommen, wieder ganz, wieder eins zu werden.
Meine Geburt hat für mich dieses Moment der Trennung. Sie war geprägt von einem unbändigen, kraftvollen Bestreben, in die Welt zu treten. Der Wunsch meiner Mutter war, mich aus der natürlichen Hockhaltung zu gebären. Doch sie wurde in die Rückenlage gezwungen. So wurde ich entbunden, nicht geboren. In dieser Position bereiteten ihr die Wehen solche Schmerzen, dass ihr Kreislauf kollabierte. Ob sie darüber hinaus noch eine damals nicht unübliche sogenannte Durchtrittsnarkose bekam, ist nicht sicher. Für mein Gefühl war meine Mama „weg“. Meine Blutversorgung brach kurzfristig zusammen – es war dies ein Erleben des Sturzes in die bodenlose, unendliche Tiefe, das Nichts, die Verlorenheit, verbunden mit tiefer Angst. So kam ich mehr tot als lebendig zur Welt.
Bis in die späte Kindheit hinein begleitete mich im Schlaf die Verarbeitung mittels eines wiederkehrenden Alptraums, in dem ich aus dem Fenster stürzte. Dennoch bin ich dankbar dafür, wie es war. Denn durch mein Erlebnis habe ich mir die Erinnerung bewahrt, dass nicht alles, was sich nach Sterben anfühlt, mit dem Tod einhergeht. Und es war meine Liebe und die Liebe meiner Eltern, die mich im Leben hielt.
Das kraftvolle, etwas zu schnelle, forcierte Voranstürmen wurde zu einem Muster, das manche Beule und manchen Schmerz brauchte, um mich von ihm zu befreien. Und bis heute begegnet mir von Zeit zu Zeit noch das Gefühl, allein und verloren zu sein. Gleichzeitig ist dies eine treibende Kraft, die meine Sehnsucht nach Verbundenheit speist, wissend, dass es nur Liebe ist, die diese kreiert.
Nach der Geburt ist der sofortige Kontakt des Kindes zu seiner Mutter von zentraler Bedeutung. Das Kind kennt seine Bezugsperson zwar inwendig, muss nun aber auch mit dem, was von seiner Mama im Äußeren wahrnehmbar ist, vertraut werden. Die Stimme hört sich anders an, die Geruchswahrnehmung ist an der Luft eine andere. Ganz neu ist für das Baby ihre Körpersprache, insbesondere die Mimik. Zuerst lernt es, das Gesicht seiner Mama zu erkennen. Dies ist die Grundlage für die Kind-Mutter-Bindung. In dieser ersten Phase ist viel Kontakt zur Mutter oder einer anderen klaren Bezugsperson von zentraler Bedeutung. Das Baby lernt sich selbst unter den neuen Umgebungsbedingungen kennen, die Grundlage für die später duale Wahrnehmung wird gelegt. Je weniger verschiedene Gesichter das Neugeborene sieht, umso leichter tut es sich, eine gespiegelte Wahrnehmung seiner selbst zu entwickeln. Diese Spiegelung ist aber immer nur eine verzerrte Wahrnehmung des Kerns. Oft sind die Neugeborenen in dieser Phase noch sehr verschlafen und introvertiert.
Erst ab etwa der 6. Woche sind die Babys richtig angekommen und es gibt eine Art Aufwachen in dieser Welt.
Idealerweise hat das Kind zu diesem Zeitpunkt des Erwachens eine erste Orientierung zu sich bekommen und angefangen, eine Bindung zu entwickeln. Den stetigen Wechsel von Entwicklung nach innen und Entwicklung nach außen hat das Kind schon die gesamte Embryonalzeit hindurch vollzogen. Nun beginnen gegenüber dem Außen das Erkennen und Spiegeln der Gesichtsausdrücke der Bezugsperson. Seine Mimik bleibt für lange Zeit nur die Summe der Gesichtsausdrücke der Eltern oder sonstigen frühen Bezugspersonen. Mit etwa einem halben Jahr kommt wieder eine Phase der Introversion, das Baby beginnt, auch nach innen zu spüren und seine Gefühle wahrzunehmen. Es spiegelt nunmehr nicht nur die Mimik, sondern auch die Emotionen. Und das Kind hat gelernt, wie es sein muss, wie es „funktionieren“ muss, um an Liebe, Nahrung, Aufmerksamkeit und Ansprache zu bekommen, was es braucht. Die ersten neun Lebensmonate sind eigentlich eine Fortsetzung der Schwangerschaft außerhalb der Gebärmutterhöhle. Erst dann hat der Säugling die Reife, die jedes andere Säugetier schon von Geburt an hat. Lediglich bei Kängurus findet diese zweite Phase im Beutel seiner Mutter statt. Im Vergleich dazu sind Menschenbabys in dieser zweiten Hälfte schon vielfältigen Eindrücken und Einflüssen ausgesetzt.
Die Unreife zum Zeitpunkt der Geburt ist die Grundlage dafür, dass das menschliche Gehirn so lernfähig und programmierbar ist – viel mehr als bei jedem anderen Lebewesen. Man bezeichnet dies als Neuroplastizität. Neben dem Geburtserlebnis liegt in dieser Mischung aus Hilflosigkeit und Formbarkeit auch die Frage nach der eigenen Identität und die Ursache und Bedeutung des Bedürfnisses des Babys – und von uns Menschen generell – nach Nähe, Umhüllung, Geborgenheit und Verbundenheit.
Mit neun Monaten findet dann eine Art zweite Geburt statt, das Baby wird extrovertierter, es dezentriert sich. Es schaut nicht mehr in erster Linie nach seiner Mama, sondern beginnt sich für das zu interessieren, was sie interessiert.
So ist es ein fortlaufender Prozess, in dem das Kind Reize aus seinem Umfeld und seiner Umwelt absorbiert. Das Selbst wird bekleidet mit den Masken der Persönlichkeit und verhüllt durch den Schleier der Illusion.
Wenn Du Vater oder Mutter bist oder wirst, aber auch wenn Du sonst in Kontakt mit jungem Leben bist, so bringt der wachsende Embryo und Fötus, das Baby, Kleinkind und Kind Dich in Resonanz, berührt Erinnerung in Dir an Dein Erleben in den entsprechenden Zeiträumen. Und es weckt in Dir Bewusstheit für Deinen Kern und Dein Potential. Denn Kinder sind viel näher an einem Zustand der Non-Dualität dran und bringen uns dadurch mit dieser wieder in Kontakt.
Ein schönes Bild ist das eines Updates. Es ist, als ob jeder von uns mit der Auslieferung schon eine Update-Berechtigung für das vorinstallierte Betriebssystem mitbringt. Die Elternschaft