Lost Levels. Oliver Uschmann

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Lost Levels - Oliver Uschmann

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Fischverteilung in der Stadt war kein großer Erfolg. Die Obdachlosen vor dem Kaufhof bedachten uns mit lauten Flüchen, und eine Dame, die ihnen eben noch einen Euro in den Hut gelegt hatte, schüttelte den Kopf und meinte, das sei ja wohl unfassbar, diese armen Menschen auch noch zu verhöhnen, indem man ihnen alten Fisch aus der Mülltonne anbiete. Die Punks am Bahnhof fanden die Aktion eher lustig. Einer interpretierte sie als Satire und rief irgendwas von »Tod den Pfaffen!«, bevor er sich wegen des Geruchs des Matjes und zu viel Wodka in seinem Schädel an die Mauer erbrach. Gut, dass die Religionswoche bald vorbei ist. Ab dem kommenden Montag steht für Hartmut die Englischwoche an. Das könnte glimpflicher ablaufen. Vielleicht.

      »Wovon handelt The Great Gatsby denn eigentlich?«, fragt Herr Breuer am Montagmorgen in die Runde des Englisch-Leistungskurses. Auf den Tischen vor uns liegt das kleine Reclam-Heft. Ich mag diese Teile. Da weiß man, was man hat. Deutsche Literatur ist gelb, Interpretationen sind grün und englische Texte orange. Hartmuts Ausgabe ist an jeder Stelle mit Bleistift vollgeschrieben und dermaßen abgegriffen, als hätte er den Text schon fünfmal gelesen. Hat er wahrscheinlich auch.

      Ich zeige auf: »Das Buch handelt von Jay Gatsby. Millionär. Liebt Daisy Buchanan, kann sie aber nicht haben.«

      »Das ist die Handlung«, sagt Herr Breuer, »aber was ich meine ist: Worum geht es? Was sind die Themen?«

      Er wendet sich an Hartmut. Der hat meistens die besten Antworten. Meine Leistungskurse sind Englisch und Bio. Seine Leistungskurse Englisch und Philosophie.

      »Hartmut? Was denken Sie?«

      Herr Breuer geht mit der Siezpflicht in der Oberstufe anders um. Er würde nie »Herr Hartmann« sagen. Er siezt uns, benutzt aber den Vornamen. So, wie die Kassiererinnen untereinander im Supermarkt. Hartmut kennt die Antwort, aber er schweigt.

      Ich weiß auch, warum.

      Englischwoche.

      »Hartmut?«, fragt Herr Breuer erneut, doch Hartmut starrt ins Leere, als bemerke er ihn gar nicht. Herr Breuer fuchtelt mit der Hand vor Hartmuts Gesicht herum wie Thomas Gottschalk vor der Brille eines Wettkandidaten, bevor er sagt, dass der tatsächlich nix mehr sieht.

      »Hallo?«, fragt Herr Breuer, »jemand zu Hause?«

      Hartmut stiert ins Universum.

      Ich seufze und sage: »Sie müssen Englisch sprechen.«

      »Bitte?«

      »Englisch«, sage ich. »Heute ist Englischwoche.«

      »Ich weiß, welches Fach ich unterrichte«, antwortet Herr Breuer ein wenig giftig, als ob ich nun was dafür könnte. Ich denke an mein Zimmer daheim und an die Badewanne. Vielleicht schwänze ich den Rest der Woche.

      »Nein, Herr Breuer«, sage ich geduldig, »für Hartmut ist Englischwoche. Nicht nur hier, im Englisch-LK. Den ganzen Tag.«

      »Das verstehe ich nicht«, sagt Herr Breuer.

      »Das ist wie neulich beim Fischtag«, ruft Matthes.

      Herr Breuer dämmert es. Er stand definitiv oben im Glaskasten, als Hartmut unten auf der Platte mit dem Direktor diskutierte.

      »Solche Spiele mache ich nicht mit«, sagt Herr Breuer.

      Langsam regt mich dieser Lehrer auf.

      Ich meine, ich verstehe durchaus, dass Menschen meinen besten Freund schwierig finden, aber immerhin sitzen wir im Englisch-Leistungskurs. Duldsam drehe ich mich zu Hartmut, lege meinen Arm auf seine Stuhllehne, tippe auf sein zerlesenes Reclam-Buch und frage: »Hartmut, what’s this novel all about?«

      Hartmut hebt den Kopf und reißt die Augen auf, als sei er in einer Tausendstelsekunde aus dem Koma erwacht. Wie ein Gelehrter in einer Literatursendung antwortet er: »At first sight, The Great Gatsby only seems to be a classical tragic love story. A usual he wants her, but he can’t get her-drama. Of course, this plot is only a vehicle for enfolding an impressive portrait of the roaring twenties, comprising all the prevailing topics of that decade, including decadence, idealism and the difficulties in dealing with the notable social turnarounds that took place at the time.«

      Den Mitschülern steht der Mund offen. Als hätten sie noch niemals die englische Sprache gehört. Herr Breuer sieht Hartmut mit den Augen eines Waschbärs an, der die Tür der Speisekammer knacken konnte, aber nur Konservendosen ohne Öffner vorfindet.

      »Wrong?«, fragt Hartmut.

      Herr Breuer schnauft.

      Man muss natürlich dazu sagen: Bevor Hartmut die Englischwoche begann, hat er sich zu jedem einfachen Wort die jeweils kompliziertere Vokabel herausgesucht. Dazu spricht er nicht gerade deutlich, sondern in einem verwaschenen amerikanischen Tonfall, wie ihn Robert De Niro oder Samuel L. Jackson in den Originalfassungen ihrer Filme vormachen. Da kann so ein Englischlehrer schon mal überfordert sein.

      »Es geht um Dekadenz, das ist schon mal korrekt«, sagt Herr Breuer jetzt, da er dieses Wort in Hartmuts Redeschwall identifizieren konnte. Hartmut verfällt augenblicklich wieder in seine Starre. Rücken gerade, Augen durch Fenster und Himmel in Richtung der Saturnringe gerichtet.

      Herr Breuer versucht, es zu ignorieren.

      »Matthes«, fragt er. »Was heißt Dekadenz?«

      »Na ja«, sagt Matthes, »das ist wie bei den alten Römern. Zu viel Reichtum. Zu viel Party. Alles geht den Bach runter.«

      »Und im Amerika der Zwanzigerjahre?«

      Matthes überlegt. Herr Breuer wartet auf Antwort, kann aber nicht anders, als Hartmuts gespielte Starre im Augenwinkel zu beobachten. Bevor Matthes eine Antwort geben kann, sagt Herr Breuer: »Herr Hartmann! Hören Sie damit auf!«

      Oh. Nachnamen-Modus. Jetzt ist der gutmütige Herr Breuer wirklich gereizt.

      Hartmut bleibt eingefroren. Dann sagt er, mit der Miene eines Androiden, scharf artikuliert, aber seltsam abgehackt betont, als würde er nach der Rezitation explodieren:

      »The brown and orange sky holds its breath

      as the sun retreats to the distant horizon,

      and our hearts palpitate anxiously as we soon will lay supine,

      and wait for sleep to overcome us.«

      Ich muss grinsen.

      Die Verse haben nichts, aber auch gar nichts mit dem Unterricht zu tun. Es handelt sich um einen Liedtext von Bad Religion. Die Religionswoche ist schließlich rum, da darf er das. Die Texte dieser Gruppe hat noch nie ein Mensch auf Erden verstanden. Nicht einmal innerhalb der Band, außer dem Sänger, der sie schreibt, ein Professor. Der Bassist der Gruppe hat es neulich zugegeben, in einem Interview, und der ist Muttersprachler.

      »Jetzt reicht’s!«, sagt Herr Breuer, als hätte Hartmut lauter unflätige Beleidigungen von sich gegeben. »Herr Hartmann, ich denke, es ist für uns alle besser, wenn Sie für heute gehen.«

      Hartmut schweigt.

      Herr Breuer sagt: »Go!«

      Hartmut nickt und packt.

      Ich

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