Lost Levels. Oliver Uschmann
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Auf dem Flur ist es still. Schweigend hängen die Jacken an den runden Haken aus dunkelblauem Plastik, obwohl sie sich gegenseitig so viel über ihre Träger zu erzählen hätten.
»So«, sagt Hartmut, »ab ins Kellergeschoss!«
»Wohin?«
»Zur Redaktion der Schülerzeitung. Schüler fliegt aus dem Leistungskurs Englisch, weil er Englisch spricht. Das nehmen die als nächste Titelseite. Damit könnte ich sogar zur lokalen Tageszeitung spazieren.«
Ich grinse.
Wo er Recht hat, hat er Recht.
Man kann nicht sagen, dass die kommenden Wochen leichter wurden. Unseren Mathelehrer trieb Hartmut in die Verzweiflung, indem er ein Jahrhunderte lang ungelöstes Rätsel an die Tafel schrieb, das in seiner Disziplin eigentlich Kultstatus hat, das der arme Mann aber nur vom Hörensagen kannte. Im Sport holte Hartmut den armen Matthes beim Fußball mit einer grausamen Blutgrätsche von den Beinen, die sich am echten Geschehen in der Bundesliga orientierte. Heute, es ist Freitag, werden wir schon vor Beginn der ersten Stunde zum Direktor gerufen, da uns Hausmeister Höttgen, als er um viertel nach sieben das Gelände betrat, dabei erwischte, wie wir mit riesigen Schaufeln die Erde zwischen den Bepflanzungen des Schulhofs abtrugen. Nun sitzen wir bei Direktor Knüfer, die Fingernägel schwarz und die Erdklumpen noch an den Hosen.
»Was soll das denn nun schon wieder?«, fragt er. Sein Büro ist den ganzen Tag mit diesen Lamellenvorhängen abgedunkelt, durch die das Licht nur in Streifen einfällt. Wie in alten Detektivfilmen.
»Löcher!«, sagt Hartmut.
Direktor Knüfer atmet schwer.
»Archäologische Löcher. Wir wollen schauen, was unter dem Schulhof so alles zu Tage kommt. Wir haben Erdkunde-Woche.«
»Es ist überhaupt keine Woche mehr!!!«, platzt es nun aus dem Direktor hervor. Die Gummipalme hinter ihm wackelt. Kleine Tröpfchen Speichel fliegen im Lamellenlicht durch den Raum.
»Wollen Sie denn nicht, dass wir die Schulfächer ernst nehmen?«
»Nein!«, brüllt Direktor Knüfer, »jedenfalls nicht so.«
»Okay«, sagt Hartmut.
Direktor Knüfer schaut ihn verwirrt an.
Hartmut nickt jovial, als wäre er hier derjenige am Ruder, der bestimmt, wann das Schiff wieder anlegt. »Alles klar. Die Themenwochen sind dann hiermit vorbei.«
Direktor Knüfer sagt, dass er das nur hoffen könne und verabschiedet uns mit der Warnung, dass er kein Problem damit habe, auch offensichtlich talentierte zukünftige Akademiker noch vor dem Abitur aus seiner Schule zu werfen … und Leute wie mich übrigens auch. Wir sagen, dass wir verstehen.
Am Montag erscheint die große Reportage unter der Überschrift »Schüler nimmt die Schule ernst – und bekommt Ärger!« nicht bloß in der Schülerzeitung, sondern auch im Lokalteil der Rheinischen Post. Weil sie gut ist, die Geschichte. Und weil der Redakteur, Herr Albrecht, mit dem Direktor Knüfer noch ein privates Hühnchen zu rupfen hatte.
Es ist eine kleine Stadt, in der wir leben.
Hartmut und ich.
Zwei Jahre vor Einzug in die WG
Höhere Reife
»Das ist ja ein süßer Fratz!«, ruft Nico und zeigt auf Hartmuts alten VW-Bus. »Hast du den adoptiert?« Nico lacht. Er hat eine Traube von Mitschülerinnen und Mitschülern im Schlepptau. Wie immer. Wie seit der Kindheit. Nico war die ganze Zeit der Held der Schule. Jungenheld. Frauenheld. Alphatier. Bester Sportler. Reichster Sohn. Sänger der Schulband. Mit vierzehn hatte er bereits fünf Freundinnen verbraucht, zwei davon allein auf der Siebener-Klassenfahrt.
Hartmut sagt: »Die habe ich aus dem Tierheim. War schwierig. Es gab viele Bewerber dafür. Eine Tigerente findet man nicht oft.«
Nico grinst und hebt seinen Daumen, als sei Hartmut ein Gegner beim Boxen und hätte den Schlag gut pariert. Es sieht arrogant aus. Gönnerhaft.
Ich drehe mich zu Hartmut und sage: »Dein Bus ist eine sie?«
»Natürlich«, antwortet er. »Eine Ente ist immer eine sie. Sonst wäre es ein Erpel.«
Manchmal verstehe ich ihn nicht. Er hat den großen, zum Wohnmobil umgebauten VW-Bus extra so vor dem Eingang der Niederrheinhalle geparkt, dass alle Mitschüler und Eltern auf dem Weg zur abendlichen Abiturfeier uns damit sehen können. So wie die Halbstarken es früher in den Filmen aus den Fünfzigern mit ihren Cadillacs machten. Zum Angeben. Wir parken immer so, seit Hartmut das Ding besitzt. Auffällig vor Konzerthallen. Auf Festivals direkt am Weg statt tief in der Wohnwagenmenge. Am Rande von Trödelmärkten. Hartmut will gesehen werden. Nur eben nicht mit einem amerikanischen Muscle-Car, sondern mit einem Volkswagen LT, den er direkt nach dem Kauf zur Tigerente umgestaltet hat. Nicht sauber mit der Spritzpistole, sondern mit Pinsel und Händen. Es sieht aus, als hätte ein Kind ein Fahrzeug bemalt.
»Alles was ist, ist Metapher«, sagt Hartmut. »In dieser Welt braucht es Männer, die freiwillig eine Tigerente fahren. Als Gegengewicht.« Beim Sprechen schaut er Nico und seinen Anhängern hinterher. Zu ihnen gehört auch Corinna. Ihr habe ich in der siebten Klasse hinterhergesehen. Einmal starrte ich eine halbe Ewigkeit auf ihre Hände, als sie Schwierigkeiten hatte, ihr Fahrradschloss aufzufummeln. Es war Winter. Weißer Reif lag auf jedem Blatt und den Pfosten des Zauns. Sie trug fingerlose schwarze Wollhandschuhe, und statt einfach zu ihr zu gehen und ihr zu helfen, stand ich da wie ein Idiot, stellte mir vor, wie diese Finger ganz woanders herumfummeln würden, und bekam ein schlechtes Gewissen. Ich habe Corinna nie gekriegt. Nico ging ein paar Wochen mit ihr. Für ihn war sie eine von vielen. Für mich gab es nach Corinna nur noch Bina. Oder eben auch nicht. Aber das ist eine andere Geschichte. Nico jedenfalls hat eine deutsche Mutter und einen griechischen Vater. Beide Nationalitäten haben ihre deutlichsten Spuren hinterlassen. Sein Körper ist von germanischer Größe und wikingergleicher Haltung, während seine Wangenknochen vom Gott Apollon selbst modelliert wurden. Und das Schlimme ist – er weiß das!
BLUUUUUAAAAAARRRRRRGHHHHHHH!!!
Ein blauer VW Käfer knattert um die Ecke. Death Metal quillt aus den Fenstern, als würde sich das Automobil zu allen Seiten hin übergeben. Jens. Er winkt aus dem offenen Fenster und guckt viel zu heiter für das eitrige Todesgebrüll. Mit schorfiger Vollbremsung parkt er die rollende Antiquität auf dem Schotterplatz gegenüber, schaltet den Krach aus, zieht seinen Seesack von der Rückbank und marschiert voller Vorfreude zu uns herüber.
»Nur noch ein paar Stunden!«, ruft er und wirft den Seesack an Hartmut vorbei in die Tigerente. Das Jackett zur guten Jeans sieht gar nicht übel an ihm aus. Jedenfalls besser als die T-Shirts, die er sonst trägt. Motive von Bands wie Autopsy oder Pestilence. Selbst Hartmut und ich tragen heute das anständigste, was wir gefunden haben. Hartmut eine Weste über einem schwarzen T-Shirt, ich meinen Konfirmationsanzug. In einer Stunde sitzen in der Halle sämtliche Eltern und Schüler beisammen und feiern das Ende von dreizehn Jahren Bildung. Und danach, heute Nacht, wenn alle auseinandergehen, steigen wir drei in die Tigerente und fahren Richtung Süden. Einfach so. Ein paar Wochen lang. Im Stauraum unter den Sitzbänken haben wir Dosen gehortet. Zehn Paletten Bier. Acht Paletten Ravioli. Vier Paletten Tomatensuppe.