Lost Levels. Oliver Uschmann

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Lost Levels - Oliver Uschmann

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sich kurz um und läuft zum Grünstreifen am Rande des Geländes. Jens hat noch nie eine Toilette benutzt. Er muss sich stets unter freiem Himmel erleichtern. Das ist sein Gesetz. Vielleicht liegt es an seinem chronischen ADHS. Er kann keine Musik hören, deren Schlagzeug langsamer ist als ein Flakgeschütz. Wenn’s nicht Todesgewürge ist, ist es Skatepunk. Früher hat er statt Luftgitarre gerne Luftskateboard gespielt. Mit einem imaginierten Brett unter den Füßen ist er die Wände und Treppengeländer hochgesprungen. Er ist ein wenig älter als wir und erst in der zwölften Klasse auf unsere Schule gewechselt. Hartmut mag ihn, obwohl der kleine Hektiker das Gegenteil von mir ist. Oder vielleicht deswegen.

      »Ist Death Metal nicht auch viel zu männlich?«, frage ich ihn, während Jens den Rhododendron wässert.

      Hartmut antwortet mit einer Gegenfrage: »Lassen Pestilence in ihren Videos spärlich bekleidete Frauen mit String Tanga am Pool den Popo in die Kamera halten?«

      Ich antworte nicht, nehme einen Schluck Bier und ziehe die Augenbrauen hoch.

      »Oder lässt Nico jemals Obituary laufen, wenn er wieder eine neue Perle in seinen Wagen locken möchte?«

      Hartmut spricht das Wort »Perle« mit einer Mischung aus Spott und Bedauern aus. Nicht, weil er kein Respekt vor Mädchen hätte, sondern weil er es nicht mag, wie unser griechischer Frauenheld Nico sie betrachtet. Wie frische Hähnchen an der Grillstange. Schnell vernascht, schnell vergessen. Ich gebe zu, den Soundtrack für diese Methoden liefern dem Macho keine blass geschminkten Okkultisten, sondern afroamerikanische R’n’B-Sänger mit Diamant-Ohrringen. Die sind mir ebenfalls unsympathisch. Ich bin froh, zu den Männern zu gehören, die noch wissen, was Anstand ist.

      »Hey!«, ruft Jens und lehnt sich nach hinten aus der Rabatte, »noch ist was in der Blase! Will keiner die Chance nutzen und den Strahl kreuzen?«

      Eine Stunde später sitzen wir an den runden Tischen in der Halle und lauschen gemeinsam mit unseren Eltern der Rede von Direktor Knüfer. In meinem Fall bedeutet das: Meine Mutter sitzt schweigsam wie ein Spierstrauch neben Hartmuts plappernder Erzeugerin und seinem zurückhaltenden Papa. Der ist ähnlich sparsam mit Worten wie meine Mutter, aber aus anderen Gründen. Er war mal Studienrat und spricht nur, wenn es druckreif ist oder zitierfähig. Meine Mutter betreibt eine Baumschule außerhalb der Stadt und betreibt Konversation mit Menschen genauso wie mit Pflanzen: telepathisch. Ihr Weg zur Veranstaltungshalle war kurz. Das Hochhaus am Bahnhof, in dem wir leben, kann man vom Vorplatz der Halle aus sehen. Es ragt mit seinem Zwilling daneben über das ganze Viertel hinweg wie die unheimlichen dreibeinigen Herrscher. Meine Tante Judith und mein kleiner Cousin Dennis sind ebenfalls gekommen. Sie sind vor ein paar Jahren in den zwölften Stock über uns gezogen, als auch Judith von ihrem Mann im Stich gelassen wurde, so wie meine Mutter von meinem Vater, als ich klein war. Wahrscheinlich hat Hartmut Recht. Gegen den menschlichen Mann an sich, wie er mehrheitlich ist, muss etwas unternommen werden.

      »Und du?«, fragt mich Hartmuts Mutter. »Schon aufgeregt?«

      Ich nicke, aber aus anderen Gründen. Sie meint den Campingbus-Urlaub, in den wir heute Nacht starten. Ich meine den Deal, den Hartmut mit Nico gemacht hat. Oder besser gesagt, mit dem Komitee für die Abiturfeierlichkeiten, das von Nico geleitet wurde. Der Deal geht so: Nico und seine Leute durften die Party auf dem Schulhof und den Abiturscherz organisieren. Sie meinten, wenn Hartmut das mache, käme bestimmt eine Aktion dabei heraus, die kein Mensch ohne Kunststudium verstünde. Damit lagen sie sicher richtig. Also machten sie »albernen Kinderkram«, wie Hartmut es nannte, besorgten tonnenweise Heu vom Bauern und verbarrikadierten damit das Lehrerzimmer. Zum Abi-Motto erkoren sie das Kürzel A.B.I. – Amtlich bescheinigte Inkompetenz. Hartmut weigert sich bis heute, das T-Shirt zu tragen. Im Gegenzug dafür, dass Nico und seine Schergen diesen Quatsch aufziehen durften, darf Hartmut gleich nach Direktor Knüfer im Namen der Schüler die Abschlussrede halten. Das ist der besagte Deal. Und das wiederum hätte ich an Nicos Stelle niemals zugelassen!

      » … und daher wünsche ich nun allen Schülerinnen und Schülern des Jahrgangs alles Gute auf ihrem weiteren Lebensweg. Mögen alle Ihre Träume und Wünsche in Erfüllung gehen!«

      Direktor Knüfer packt seine Ledermappe zusammen und nimmt den höflichen Applaus der Menge entgegen. Es sind viele Menschen anwesend und die Tische wurden weitläufig verteilt, doch trotzdem verlieren sie sich in der Halle, die wie ein Hangar wirkt. Groß und ungemütlich. Die Toten Hosen haben hier schon gespielt, und die Flippers. Die Türen des Eingangs sind dermaßen gigantisch, dass man mit dem Laster bis vor die Bühne fahren könnte, wenn man wollte. Der Direktor nickt Hartmut zu. Jens wippt am Nebentisch mit den Füßen und hebt den Daumen. Er hat bereits sämtliche Programmblätter zu Kranichen und Dackeln gefaltet. Hartmut betritt langsam die Bühne und stellt sich ans Pult. Ich reibe mir die Schläfen.

      Hartmuts Mutter fragt: »Was hast du? Ist dir schlecht? Ich fand auch, dass die Shrimps am Büffet nicht gerade rosig aussahen.«

      Ich schüttele den Kopf.

      Vor meinem inneren Auge sehe ich die Verhandlung, die Nico mit Hartmut geführt hat, auf dem Schulhof vor der Milchbude. Ich höre Hartmuts Worte, wie er sagt: »Einverstanden, Nico. Aber wenn ich die Rede halte, dann sage ich die Wahrheit. Okay? Ich sage die Wahrheit.«

      Nico schlug ein und hatte ihn wieder drauf, seinen Blick. Überheblich. Gönnerhaft. Niemanden ernst nehmend. Keine »Perle« und auch keinen Typen, der seinen Bus wie ein Tier aus einem Kinderbuch anmalt.

      Nico, was hast du da getan?

      Hartmut rückt sich das Mikrofon zurecht.

      Es knackt.

      Alle gucken.

      Und Hartmut?

      Sagt nichts.

      Eine Sekunde.

      Zwei Sekunden.

      Drei Sekunden.

      Jemand hustet.

      Zwei Pilsgläser stoßen aneinander.

      Jens’ Fuß klackert auf den Boden wie Kolibri-Flügel.

      Vier Sekunden.

      Fünf Sekunden.

      Hartmut hebt den Kopf, die Koteletten durchleuchtet vom Scheinwerferlicht wie Dornenbüsche vom Vollmond in der Nacht.

      Er atmet … und sagt: »Das Leben kann nur rückwärts verstanden, muss aber vorwärts gelebt werden.«

      Dann schweigt er wieder.

      Hartmuts Vater lächelt dezent in sich hinein.

      Nico grinst überheblich an seinem Tisch. Sein Vater ist einen Kopf kleiner als er, aber einer der bedeutendsten Anwälte in ganz Nordrhein-Westfalen. Sagt man. Matthes‘ Eltern einen Tisch weiter betreiben den Trucker-Grill im Gewerbegebiet.

      Hartmut lässt erneut ein paar Sekunden verstreichen, bevor er schließlich loslegt.

      »Liebe Mitschülerinnen und Mitschüler,

      wenn wir uns in fünf, in zehn, in fünfzehn Jahren wieder treffen, wird viel in euer aller Leben passiert sein. Ihr habt eure Berufung zu eurem Beruf gemacht und folgt euren Talenten und eurem Herzen. Jeder geht seinen eigenen Weg, und sollte dies ein anderer sein als der, den eure Eltern euch vorgelebt haben, werden sie ihn trotzdem unterstützen und mit bedingungsloser Loyalität begleiten. Die Männer werden ihre Zeit beim Militär oder im Zivildienst nutzen,

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