Lost Levels. Oliver Uschmann
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Der Direktor dreht sich zu uns um, als wolle er sagen: Alle Achtung, euer Freund, der Verrückte, also … alle Achtung. Selbst meine Mutter offenbart ihren seltenen seligen Blick, den sie sonst nur hat, wenn die Koniferen in der Baumschule wie an der Schnur gezogen in die Höhe schießen. Aber ich ahne, dass das noch nicht alles war.
»Aber leider«, fährt Hartmut fort, »wird es so nicht kommen.«
Der Direktor wirbelt wieder herum.
Meine Mutter findet braune Stellen an der Konifere.
Hartmut holt Luft und setzt neu an, als würde die Rede erst jetzt beginnen:
»Liebe Mitschülerinnen und Mitschüler,
wenn wir uns in fünf, in zehn, in fünfzehn Jahren wieder treffen, wird viel in euer aller Leben passiert sein. Nur einer von zehn hat seine Berufung zum Beruf gemacht und folgt seinem Talent und seinem Herzen. Der Rest folgt den Erwartungen seiner Eltern, denn er weiß: Tut er das nicht, werden sie ihn mit wortlosen Vorwürfen und schweigsamer Bitterkeit strafen.«
Hartmut schaut bei diesen Sätzen zu Nico und seinem griechischen Vater, als sei der Mann der jähzornige Zeus.
Ich sinke etwas tiefer in den Stuhl.
Hartmut sagt: »Die Männer werden ihre Zeit beim Militär oder im Zivildienst damit verbringen, sich auf der Stube oder in der Umkleide heimlich zu betrinken, um die Sinnlosigkeit des Wehrdienstes und die herzlose Effizienz des modernen Krankenhausbetriebs auch nur halbwegs zu ertragen. Die Frauen studieren ‚Reli‘ und ‚SoWi‘ auf Lehramt und trauen sich nicht einmal, die eigenen Fächer mit vollem Namen auszusprechen, während sie sich heimlich wünschen, sie hätten den Mut gehabt, sich für Maschinenbau oder Chemie einzuschreiben und den Platzhirschen bei Bayer und BASF zu zeigen, wo der Hammer hängt. Sollten sie sich zwischendurch verlieben, Kinder bekommen und mit ganzem Herzen fürs Erste oder für immer nur Mutter werden wollen, werden vor allem alle anderen Frauen um sie herum sie dieses nur spüren lassen, als sei es ernsthaft einfacher, die Pädagogik jeden Tag am plärrenden Praxisteil auszuprobieren, als sich irgendwelche Seminararbeiten über die Erziehungstheorien von Jean Piaget aus den Fingernägeln zu saugen.«
Oh Gott, oh Gott, oh Gott.
Hartmut wird lauter und lauter. Jens hört auf, mit dem Fuß zu wippen, fährt sich mit der Hand übers Kinn, sieht sich um, steht auf und verlässt die Halle. Was soll das? Muss er pinkeln und deswegen schnell ins Freie? Hartmut sieht es, scheint aber nicht überrascht.
»Nur ganz wenige«, macht er am Rednerpult weiter, »werden sich verändern. Du, Matthes, du schon!«
Matthes legt die Hände flach auf seine Brust, als wolle er sagen: »Wer, ich?« Seine Eltern gucken entsetzt, als sei Hartmuts Wort das Gesetz der Zukunft, das bedeutet: Nach ihnen ist der Trucker-Grill Geschichte.
»Auch du, Mehmet, gehst deinen Weg.«
Die ganze Halle dreht sich um zu einem der hinteren Tische, an dem Mehmet mit seiner Familie Platz genommen hat. Sein Vater runzelt die Stirn und weiß nicht, ob das nun ein Kompliment war. Seine Mutter versteht kein Wort, weil sie kaum Deutsch spricht. Mehmet hat einen der besten Notenschnitte und sich fest vorgenommen, Umwelttechniker zu werden und eines Tages die ganze Welt mit sauberer Energie zu versorgen, falls das CIA ihn nicht in dem Moment, wo er die ultimative Methode gefunden hat, im Auftrag der Ölkonzerne erschießt. Dennoch hat er in der Schule immer den lustigen Türken gegeben, so wie Eddie Murphy im Kino den lustigen Schwarzen.
»Aber erwarte dafür keinen Respekt, Mehmet!«, sagt Hartmut. »Von der Welt, ja, aber nicht von denen.«
Er zeigt quer über die Tische.
»Denn wenn ihr euch verändert oder ganz offen zu der Person werdet, die ihr eigentlich schon längst seid, die ihr aber immer versteckt habt, werden eure Freunde diese Entwicklung mit Neid und Missgunst verfolgen. Die neuen Partner und Partnerinnen, die mit der Zeit in euer Leben treten, werden für alles verantwortlich gemacht, was euren alten Freunden an euch nicht mehr gefällt, da jeder neue Mensch eine Gruppe und ihre Gewohnheiten gefährdet.«
Ich klappe meinen Hemdkragen hoch und bin mit der Nase bald auf Tischhöhe angekommen. Irgendwie fühle ich mich verantwortlich für Hartmut. Ich habe doch gesehen, wie er an der Rede geschrieben hat, auf und ab laufend wie ein Tiger im Käfig. Ich bin die Stimme der Vernunft in unserer Beziehung. Ich hätte ihn bremsen müssen. Der Direktor wirkt, als überlege er sich, ob er das Mikro abschalten lassen soll. Nur Hausmeister Höttgen steht relativ entspannt im Hintergrund an der Wand der Halle. Wahrscheinlich, weil er ahnt, dass er in dieser Rede nicht vorkommen wird. Trotz der verweigerten Biomilch.
»Sehen wir uns in fünf, in zehn, in fünfzehn Jahren zum Stufentreffen, tragen wir erneut Westen und Anzüge, aber die meisten unter uns werden die Chance nutzen, um nur für einen Abend endlich wieder der Chef im Ring zu sein, der einen Matthes oder einen Mehmet aufzieht und mobbt, obwohl diese Männer längst die Welt verändern und als Kollateralnutzen zweistellige Millionenbeträge auf ihrem Konto haben.«
Mehmet und Matthes werden rot.
Nico, seine Anhänger und der Direktor werden weiß.
Vor der Halle ertönt ein Motor. Jemand betätigt die alte Schiebetür eines Transporters und direkt danach die gigantischen Flügeltüren der Halle. Es ist Jens. Die Köpfe drehen sich wieder. Hausmeister Höttgen klappt den Mund auf. Das Maul der Halle steht nun offen, und direkt davor brummt Hartmuts Tigerente, bereit zum Sprung wie ein knurrendes Raubtier. Jens steigt in den Bus. Hartmuts Eltern schauen sich an. Meine Mutter sieht die Koniferen brennen.
Hartmut startet den Schlussakkord. Er will den klassischen Machtmenschen-Mann vernichten, aber jetzt klingt er selbst fast so fanatisch wie damals ein gewisser Österreicher zu der Zeit, als der 1. FC Nürnberg ständig deutscher Fußballmeister wurde.
»ALLE Vorurteile, ALLE Kindereien und ALLE Rollenspiele, mit denen wir uns in den letzten Jahren gequält haben, werden auf den Stufentreffen der Zukunft wiederholt werden, und die Einzigen, die fähig sind, sich auf Augenhöhe, mit Wertschätzung und Respekt zu begegnen, bleiben spätestens ab dem zweiten Treffen diesem Unsinn fern und schreiben sich gegenseitig Briefe, mit Feder und Tinte, bei Rotwein und guter Musik, und zwar auf Büttenpapier!!!«
Mehmet und Matthes sehen sich gegenseitig an, als fragten sie sich, wo sie dieses Büttenpapier herkriegen sollen und ob in fünf, zehn oder fünfzehn Jahren nicht auch elektronische Post reichen wird. Hausmeister Höttgen sieht hilflos zu Direktor Knüfer, der aufsteht und auch nicht weiß, was er dagegen unternehmen soll, dass Jens nun auf ein Zeichen Hartmuts hin mit dem Tigerentenbus in die Halle fährt und bei offener Schiebetür seitlich zum Stehen kommt.
Hartmut