als die wahrheit noch männlich und katholisch war. Franziska Maria Papst

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als die wahrheit noch männlich und katholisch war - Franziska Maria Papst

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Erwachsener erahnen konnte. Sie war m e i n e Wirklichkeit.

      Dass auch das reale Leben in subjektiver Wahrnehmung besteht, wurde mir erst in späteren Jahren bewusst. Damals waren die Geschichten, die mir die Mauer erzählte nicht fremde irreale Erzählungen, keine fliegenden Drachen, auch keine Märchen von Prinzessinnen und Prinzen, sondern ich bastelte Erlebtes, Gehörtes und Erfahrenes in meinem Kopf zu Erzählungen zusammen. Es waren banale Geschichten. Alltagsgeschichten. Sie halfen mir, meine Erlebnisse und Gedanken in Worte zu fassen, die auch ich letztendlich in die Mauer verpacken konnte. Dort waren sie nicht nur gut aufgehoben, sondern ich konnte sie mir jederzeit, wie einen Kinofilm, ansehen. Das Schöne an diesen Phantasiegeschichten war aber auch, dass ich ihnen ein Happy End verpassen konnte, was im realen Leben manchmal nicht möglich war.

      Doch nicht nur Geschichten aus meiner unmittelbaren Gegenwart faszinierten mich, sondern ich konnte mich auch gut in vergangene Welten hineinfallen lassen. Ich machte Reisen im Kopf und fragte mich, was diejenigen d a m a l s wohl zur Welt h e u t e sagen würden. Wahrscheinlich würden sie sich vor den neuesten Entwicklungen fürchten. Sie würden Lautsprecher für Geister und Flugzeuge für böse Drachen halten. Was haben die Menschen damals gedacht und geglaubt, fragte ich mich. Wie wussten sie zwischen Vorstellung und Realität zu unterscheiden?

      Besonders geprägt haben mich die Erlebnisse, die mein Großvater aus seiner Kindheit erzählte. Meist waren es lustige Erzählungen über Streiche, die sie als Buben in dem kleinen Dorf, in dem er aufgewachsen war, durchführten. Es waren Geschichten über seine Schulzeit. Ich denke einige dieser Erzählungen hat mein Großvater auch erfunden, als er merkte, wie gerne wir seinen Erinnerungen zuhörten.

      Als ich älter war, sprach mein Großvater auch über den Krieg. Aber das waren sehr seltene Momente. Umso mehr sind sie mir im Gedächtnis geblieben. Ich denke, er wollte nicht wirklich darüber reden. Er versuchte, seine Erlebnisse herunterzuspielen und erzählte im Grunde nur Harmloses. Doch die kleinen Alltagsgeschichten ließen mich das Erleben der Menschen spüren. Ich schlüpfte in die Personen seiner Erzählungen hinein. In meinem Kopf wurden seine Kriegserfahrungen lebendig.

      Ich wurde zum Soldat, der an einem eiskalten Wintertag auf einem offenen Lastwagen von Klagenfurt nach Wien fuhr. Es war kalt. Sehr kalt. Der junge Mann hatte nur einen einzigen Gedanken, nämlich:

      „Ich muss mich bewegen, damit ich nicht erfriere“. Und er stand auf und lief auf der Ladefläche des Lastwagens hin und her. Fünf ewige Stunden lang. Ich spürte wie mir die Kälte in die Glieder kroch und stand auf, um mich zu bewegen. Hin und her - auf knappen eineinhalb Metern - hin und her. Kniebeuge. Hin und her. Kniebeuge. Mein Kopf war leer. Ich konnte nichts Anderes mehr fühlen. Ich war der junge Mann, der sich selbst verbot zu denken und sich zwang, auf der Ladefläche des Lastwagens hin und her zu laufen. Nicht denken. Bewegen. Nicht hinterfragen. Bewegen. Nicht denken, wozu überhaupt dieser Krieg? Nicht denken, was sein wird. Bewegen. Eins. Zwei. Kniebeuge. Eins. Zwei. Kniebeuge. Zählen wie oft man hin und her gegangen ist. Und das Wichtigste: Nicht denken. Nicht hinterfragen. Weitermachen. Eine ganze Generation verbot sich das Denken. Nicht hinterfragen.

      In meinen Gedanken war ich auf einmal viele Jahre später. Der gleiche Mann sitzt in einem schönen Wohnzimmer. Frau und Kind lachen ihm zu. Das ist es wofür ich gekämpft habe, denkt er sich. Dafür? Nicht hinterfragen. Der Krieg ist vorbei. Gott sei Dank. Nie wieder. Und der Soldat versucht die Kriegsbilder aus seinem Gedächtnis zu streichen.

      Ich hingegen, versuchte mir alle Geschichten zu merken. Ich saugte sie richtiggehend auf. Die Bilder aus vergangenen Zeiten kamen mich besuchen. Ich mochte sie. Ich fand sie spannend. Ich fragte mich, wie Menschen in früheren Zeiten gelebt hatten, was sie überleben ließ und was sie geprägt hatte.

      Heutzutage war es ja wirklich einfach zu überleben. Es gab eine eigene Wohnung für jede Familie. Es gab ein gutes Sozialsystem. Keiner musste verhungern oder verdursten. Das war bei meinen Großeltern oder Ur-ur-urgroßeltern anders gewesen.

      Auch im Mittelalter war das Leben sehr mühsam gewesen, wusste ich. Eine Burg oder auch ein Hof, wo alles reibungslos ablief, garantierte damals das Überleben. Diese Erkenntnis hatten mir die Märchen der Gebrüder Grimm vermittelt, die mein ganz persönliches Paradies waren. Ich träumte mit Aschenputtel um die Wette, wünschte mir lange Haare wie Rapunzel oder überlegte wer wohl glücklicher war: Schneeweißchen oder Rosenrot?

      Eines war dabei besonders auffällig: Ich fand mich nie in der Rolle der Hauptperson wieder, nämlich der (unentdeckten) Prinzessin oder der glücklichen Maid, die vom Prinzen gerettet wurde. Ich schlüpfte meist in die Person des Küchenmädchens oder bestenfalls des Stallburschen und bekam dadurch eine ganz besondere Wichtigkeit. Es war eine Rolle, die sich dadurch auszeichnete, dass sie – wie die Magd im Stall – durch ihre Arbeitskraft unverzichtbar war. Wer würde die schmutzigen Töpfe putzen? Wer sorgte dafür, dass die Laken geflickt und genug Essen auf dem Tisch war. Diese Personen waren in ihren Tätigkeiten unverzichtbar.

      Die Aufgaben einer Prinzessin erschienen mir hingegen entbehrlich. Da war es doch weit wichtiger die ungeliebten, mühsamen Arbeiten des Dienstpersonals zu verrichten. Ohne das Gesinde, ohne die kleinen, unzähligen, fleißigen Hände der Knechte und Mägde gab es kein funktionierendes Burgleben. Natürlich brauchte es eine königliche Familie. Ein König musste regieren und er musste sich darum kümmern, dass seine Burg nicht auseinanderfiel. Da hatte er eine Menge zu tun. Und dazu benötigte er vor allem Dienstpersonal und Soldaten, die die Burg verteidigten. Eine Prinzessin schien mir aber in dem Zusammenhang weniger wichtig. Und wofür brauchte es einen Prinzen? Nun, ein Prinz musste irgendwann die Regierung übernehmen, aber wozu waren seine Brüder, seine Cousins, seine Onkels da? Es konnten schließlich nicht alle regieren.

      Ich beschloss, dass ich auf keinen Fall Prinzessin werden wollte. Lieber eine Ritterin, oder noch besser eine liebevolle Magd im Dienst ihrer Herren. Ich wollte mich mit den wirklich wichtigen Dingen des Lebens beschäftigen: kochen, putzen, Kinder großziehen. In meinen Gedanken wurde ich ein unverzichtbarer Teil meines märchenhaften Dienstpersonals und damit auch gleichzeitig unentbehrlicher Teil der Dynastie. Ich war diejenige, die für das Aschenputtel und ihren Prinzen kochte. Ich war die Goldmarie aus Frau Holle (allerdings ohne Goldregen, denn ich wusste ja, dass es den Goldregen erst im Himmel gab). Ich war diejenige, die nachdem der Jäger das Rotkäppchen aus dem Bauch des bösen Wolfes befreit hatte, Steine holte um den Wolfsbauch damit zu füllen. Ich war diejenige, die das Stroh in die Kammer trug, das die Königin in der Rumpelstilzchen-Geschichte zu Gold spinnen musste. Ich putze die Spindel, reparierte das Spinnrad und das Wichtigste: Ich war immer dabei. Ich war dabei, als der Prinz das Dornröschen küsste und ich war dabei, als das vergiftete Apfelstück aus dem Mund des Schneewittchens sprang. Ich war mitten im Geschehen. Mein Leben war aufregend. Ich wusste alles immer aus nächster Nähe und lernte daraus für mein Leben.

      Genauso lebensnah waren mir die Erzählungen der Bibel. Sie berührten mich und lehrten mich das Leben in seiner Vielschichtigkeit wahrzunehmen. Manche Menschen betrachteten die Bibel als etwas Geheimnisvolles, Kompliziertes und vor allem Unberührbares. Aber das Gegenteil war der Fall. Ich fand die Bibel weder geheimnisvoll noch kompliziert. Sie faszinierte mich. Mehr noch, ich fühlte mich verstanden. In den biblischen Geschichten begegnete ich Menschen, die mein Innerstes berührten. Sie waren in die kleinen und großen Herausforderungen des Lebens verstrickt. Es waren Menschen, die Gott begegnet waren und dann versuchten, all das Erfahrene mit eigenen Worten auszudrücken. Von Wundern war in den biblischen Erzählungen die Rede. Es waren Zaubermächte, die Hunger und Tod besiegten, wie bei der Witwe von Sarepta, bei der Elija bewirkte, dass das Mehl im Topf und das Öl im Krug nicht versiegte und darüber hinaus noch ihren Sohn zum Leben erweckte.1

      Das hebräische Volk war in meinem Kopf eine eingeschworene Gemeinschaft, wie ich sie mir für das wahre Leben wünschte. Durch kriegerische Feinde bedroht, fürchteten die Israeliten immer wieder um ihr Leben und waren von Hungersnot oder Krankheiten bedroht. Aber die Geschichten hatten ein Happy End, denn im letzten Moment gab es immer

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