Blutdorf. Rolf Eversheim

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Blutdorf - Rolf Eversheim Eifel-Krimi

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zwei Äcker sollst du denken,

      einen nur bestellst du,

       in den anderen wird dich senken

      Gottes Hand zur Ruh.

       1. Kapitel

      Fassungslos beugte sich Julia Scheffer hinunter, um das Unvorstellbare besser betrachten zu können: Das satte Wiesengrün des Sommers war rot mit Blut getränkt. Sie betrachtete die geöffnete Bauchhöhle und musste sich zwingen, den Blick nicht abzuwenden. Ihre feinen Hände, die so gar nicht zu der groben Tracht passen wollten, klammerten sich an den Hütestab aus Schwarzdorn, der ihr ein wenig Halt gab. Bis auf den Verdauungstrakt war der komplette Bauchinhalt verschwunden. Es gab nur eine logische Erklärung … Sie überwand sich und fühlte den Hals ab. Jetzt hatte sie völlige Gewissheit: Das Opfer war durch einen Biss in die Luftröhre getötet worden. Der Biss hatte so lange gedauert, bis das Opfer erstickt war. Dieser Drosselbiss war typisch für vom Wolf gerissene Schafe.

      Die Wanderschäferin musste sich setzen. Das Bild, das sie fast dreißig Jahre versucht hatte, aus ihrer Erinnerung zu löschen, war in seiner ganzen Erbarmungslosigkeit wieder da, so als wäre es gerade erst geschehen …

      Als junges Mädchen hatte sie wunderbare Sommerferien bei ihrem Großvater und seiner Schafherde verbracht. Was hatte er ihr nicht alles über die Schäferei beigebrach, über die Natur und das Leben da draußen, über Hütehunde … und über Wölfe.

      Sie hatte gelacht. »Großvater, Wölfe gibt es doch bei uns gar keine mehr. Das habe ich in der Schule gelernt. Du erzählst mir Märchen.«

      Der Großvater hatte sie lange schweigend angeschaut, so als würde er überlegen, ob er ihr sein Wissen mitteilen sollte; er wollte die Kinderseele nicht verstören. Doch schließlich hatte er mit seiner warmen und ruhigen Stimme geantwortet: »Julia, der Wolf ist hier. Ich kann ihn spüren. Ich merke es an der Unruhe der Schafe und Hunde. So ist es immer, wenn er da ist, der Wolf. Kein Tier ist gut oder böse. Diese Einteilung nehmen die Menschen vor, genauso wie die von nützlich oder schädlich. Allerdings wurden die Wölfe Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in der Eifel zur regelrechten Plage. In harten Wintern wagten sich die Rudel bis ans Dorf, um Vieh zu reißen. Wovon sollten sie auch sonst satt werden?«

      »Großvater, es gibt doch ganz viel Wild in den Wäldern. Das hast du mir selber erklärt.«

      »Heute ist das so, Julia, heute. Damals war die Eifel ein karges Land. Die Wälder waren abgeholzt und Wild gab es kaum noch. Flurnamen wie die Wolfsschlucht, die du da drüben siehst, oder die Wolfsgasse im Dorf erinnern noch an diese Zeiten.«

      »Du machst mir Angst. Das Dorf macht mir Angst. Hör auf!«

      »Angst ist ein schlechter Ratgeber, meine Kleine. Ich wollte dich nur dazu anhalten, vorsichtig zu sein. Geh schon mal in den Wagen und mach uns einen Kräutertee. Ich habe den Eindruck, dass noch ein paar Schafe fehlen. Ich schaue mal nach ihnen.«

      Das waren die letzten Worte, die ihr Großvater zu ihr gesprochen hatte. Als die Dämmerung hereinbrach und der Großvater noch nicht zurück war, wurde sie unruhig. Sie war zur Schafherde gegangen und hatte nach ihm gerufen, doch er antwortete nicht.

      Nach einer Zeit kam Oskar, der Hütehund, mit eingezogenem Schwanz angelaufen. Wo war sein Bruder Anton? Die beiden waren doch unzertrennlich. Oskar hatte sie angeschubst, um sie aufzufordern, ihm zu folgen. Es würde bald dunkel sein. Sie war zum Wagen des Wanderschäfers gelaufen und hatte die große Taschenlampe geholt.

      Bangen Herzens war sie der sich nahenden Dunkelheit entgegengegangen. Oskar war immer nur so weit voran gelaufen, dass sie ihm folgen konnte. Sie bewegten sich Richtung Wolfsschlucht. Immer wieder hatte sie nach dem Großvater und nach Anton gerufen, doch es hatte niemand geantwortet. Sie hatte längst die Taschenlampe angemacht, um zu sehen, wo sie hintrat. Plötzlich war Oskar stehen geblieben. Ein Gefühl von Kälte und Angst hatte sie überkommen. Oskar hatte alle Haare gesträubt. Vorsichtig bewegte sie sich auf ihn zu. Dann sah sie im Schein der Taschenlampe das Bild, das sie seit dreißig Jahren wie ein Schatten verfolgte: Großvater und Anton lagen tot in einer großen Blutlache. Die Bauchhöhlen waren aufgerissen und die Innereien aufgefressen. – Wer wem zur Hilfe geeilt war, hatte sich nie klären lassen.

      Der Schock, den sie erlitten hatte, führte zu einem ihr heute noch absolut unverständlichen Handeln: Sie leuchtete mit der Taschenlampe in Großvaters Gesicht und sah seine weit aufgerissenen Augen, von denen sie nicht sagen konnte, ob sie vor Erstaunen, Wut oder Schmerzen den sonst immer gütigen Blick des alten Mannes ausgelöscht hatten. Sie hatte sich niedergekniet, die gebrochenen Augen geschlossen und ein kurzes Gebet gesprochen. In der rechten Hand hielt der Großvater seinen Hütestab aus Schwarzdorn fest umklammert und sie musste die erkaltenden Finger einzeln aufbiegen, um ihn an sich nehmen zu können. Erst dann hatten sich alle Angst, Trauer und Panik, die ein junges Mädchen überhaupt zu empfinden in der Lage ist, Bahn gebrochen. Sie wollte schreien, aber ihre Stimme versagte.

      Sie rannte los und hätte sich nicht gewundert, wenn auch ihre Beine versagt hätten. Doch die Beine trugen sie schneller, als sie es je getan hatten, fort von diesem grauenvollen Ort. Sie rannte immer weiter, ohne eine Richtung zu kennen. Oskar wich ihr nicht von der Seite. Ihr war egal, ob er sie beschützen wollte oder selber Schutz suchte, Hauptsache Oskar war da. Wenn sie fiel, stand sie sofort wieder auf. Sie spürte keinen Schmerz, nur den Wunsch, ganz weit fortzukommen. Fort von diesem schrecklichen Bild, das sich längst in ihre Seele eingebrannt hatte. Fort vom Wolf, dessen mögliche Existenz in der Eifel sie eben noch vehement bestritten hatte.

      Irgendwann hatte sie die Lichter des Dorfes gesehen und das Dorf, das ihr nie geheuer gewesen war, wurde zu ihrem Zufluchtsort. Doch sie klopfte nicht an die erste Haustür, die sich ihr anbot. Einem ganz tiefen Instinkt folgend, so als würde sie jemand leiten, lief sie bis zum Haus der Zauberin, wie Großvater sie immer genannt hatte. Sie hatte seinen Hütestab an die Hauswand gestellt und mit ihren kleinen Händen so lange an die Tür geklopft, bis geöffnet wurde.

      Die Frau mit den wallenden roten Haaren, die sie jetzt wild hochgesteckt hatte, und den geheimnisvollen grünen Augen schien keinesfalls überrascht, als sie die beiden erblickte, sondern sagte nur: »Da seid ihr ja endlich.« Dann hatte sie den Hütestab reingenommen und die Tür geschlossen.

      Weinend hatte Julia sich in die Arme der Zauberin, deren richtigen Namen sie nicht kannte, fallen lassen und nach kurzer Zeit hatte sie zu ihrer großen Überraschung gespürt, wie eine tiefe Wärme und Geborgenheit sie umhüllte. Der Großvater war da und strich ihr über ihr Haar und sie wusste nicht, was Traum und was Wirklichkeit war. Dann war sie sicher, dass es ein Traum war, denn sie träumte, dass sich Oskar gerade mit wedelndem Schwanz eine große Schüssel Futter einverleibte. Doch als Oskar sich schnauzeleckend neben sie gelegt hatte, dachte sie, dass es unmöglich ein Traum sein könnte.

      Nun saß sie dreißig Jahre später hier, neben ihrem gerissenen Schaf, Großvaters Stab in den Händen. Schon wieder war sie zu spät gekommen.

       2. Kapitel

      Roman Mülenberk hatte seinen Wagen neben der Landstraße auf einem kleinen Feldweg stehen lassen. Er war mit seinem alten Freund Jupp Boergaard verabredet, den er seit ihren gemeinsamen Studentenzeiten in Bonn kannte. Danach hatte er Boergaard über dreißig Jahre nicht mehr gesehen. Mülenberk hatte keine Ahnung, ob die alte Freundschaft noch trug. Und er hatte auch keine Ahnung, warum Jupp Boergaard sich mit ihm in ausgerechnet diesem Dorf treffen wollte.

      Boergaard hatte Philosophie studiert und war damit in ihrer Studentenverbindung, dem Corps Tartarus, ein Exot gewesen. Was

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