Blutdorf. Rolf Eversheim
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Mülenberk lächelte, als er das Bild dieses schmächtigen langen Kerls mit seinen verschmitzten, stets wachen Augen und den scharfen Gesichtszügen, die an einen Greifvogel erinnerten, vor sich sah. Weiß der Teufel, woher er seine Reden hatte, die heutzutage in den üblichen Zitatesammlungen ergoogelt werden können. Er musste sich wohl noch klassisch aus alten Schmökern zusammengesucht haben. Sie hatten jedenfalls eine gute Zeit mit Jupp Boergaard gehabt, der nach seinem Studienabschluss von der Bildfläche verschwunden war. Was mochte er aus seinem Leben gemacht haben?
Es war noch eine Stunde bis zum Treffen und Mülenberk genoss die überbordende Natur der Sommertage, das emsige Treiben der Vögel und den unverwechselbaren Duft nach neuem Leben. Wie oft würde er den Sommer noch erleben dürfen? Er war fast sechzig Jahre alt und die perspektivische Endlichkeit des Lebens machte ihm gelegentlich zu schaffen. Bevor die Melancholie ihn einholte, beschleunigte er lieber seine Schritte und beschloss, einmal um das Dorf herumzugehen. Zeit hatte er genug.
Er war zwar schon ein paarmal durch das Dorf gefahren, aber immer nur, um von A nach B zu kommen. Das Dorf selber war heute zum ersten Mal sein Ziel, das er sich nun ganz bewusst anschaute. Es lag in einem schmalen tiefen Tal, das seinen frühen Ursprung in den nahen Vulkanausbrüchen hatte. Während die ersten Bauern und Jäger ihre Häuser weit unten im Tal gebaut hatten, vermutlich um Schutz und Zuflucht vor den Elementen zu finden, waren einige Häuser weiter oben neu gebaut worden, wo Sonne und Ausblick ein deutliches Plus an Wohnqualität versprachen. In den Dorfkern drang die Sonne nur an wenigen Stunden durch und bis vor Kurzem entsprachen Internet und Fernsehempfang der frühen Steinzeit. Deshalb wurde das Dorf in der Umgebung immer noch das Dorf der Ahnungslosen genannt, auch wenn es mittlerweile über das Internet mit dem Rest der Welt verbunden war.
Es hätte ein malerisches Dorf sein können, doch je mehr Mülenberk sich ihm näherte, desto mehr beschlich ihn ein Unbehagen, das er weder näher beschreiben noch deuten konnte.
Zögernd trat er in das kühle dunkle Labyrinth der wenigen kleinen Straßen ein. Das Dorf war definitiv zu klein, um sich darin zu verlaufen, trotzdem kam es ihm so vor, als könnte er die Orientierung oder besser gesagt seine Sicherheit hier verlieren.
Längst verblasste Schriftzüge an einigen Häusern ließen erkennen, dass es hier früher zwei Gaststätten, einen Lebensmittelladen und eine Schmiede gegeben haben musste. Was es allerdings gab, war eine kleine Dorfkirche, die sich mit ihrem frischen weißen Anstrich von den dunklen Farben der Umgebung abhob. Mülenberk hatte gar nicht damit gerechnet, dass die Tür sich öffnen ließ. Die rostigen Scharniere knarzten ein wenig und deuteten darauf hin, dass Besucher eher selten waren.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Mülenberk zuckte zusammen, denn er hatte den alten Dorfpfarrer Lamprecht, der betend in der Bank kniete, nicht bemerkt.
»Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken, aber wenn schon mal jemand in das Haus des Herrn kommt …« Lamprecht sah Mülenberk mit einem Blick an, der fragte, was um Himmels willen er denn hier in dem Dorf suche.
Mülenberk zögerte. Einerseits ging es niemanden etwas an, was er hier wollte – zudem er es selber ja nicht wusste, andererseits wollte er dem alten Pfarrer gegenüber nicht unhöflich sein. Dann beschloss er, das Höfliche mit dem Nützlichen zu verbinden: »Vielen Dank der Nachfrage, Hochwürden …«
»Hochwürden? Hochwürden … Na und ich dachte schon, dieses Wort wäre längst ausgestorben, für alle Zeiten in Vergessenheit geraten.« Verbitterung war in seiner Stimme zu hören. »Würde«, fügte er mit zitternder Stimme hinzu, »Würde hat dieses Dorf längst verlassen.« Pfarrer Lambrecht hatte in Zeiten zunehmender Priesterknappheit nicht nur das Dorf zu betreuen, vielmehr war sein Zuständigkeitsbereich im Laufe der Jahre immer weiter auf die umliegenden Orte ausgedehnt worden. Lambrecht war, wie viele seiner Mitbrüder, zunehmend ausgebrannt. Priester wurden immer mehr wie selbstverständlich als Dienstleister wahrgenommen. Das Sorgen um die Seele, weshalb er ja Seelsorger geworden war, rückte auch bei den Katholiken oder, wie er sich mit zunehmender Bitterkeit ausdrückte, mit Taufwasser Begossenen, immer weiter in den Hintergrund.
Mülenberk vermied es, auf die Bitterkeit in den Worten einzugehen. »Ich suche das Haus von Kassiopeia.«
»Kassiopeia?« Der alte Pfarrer schaute ihn plötzlich interessiert an. »Was wollen Sie von Kassiopeia?«
»Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Ein alter Freund bat mich, dort hinzukommen.«
»Ein alter Freund? Was für ein alter Freund?«
Lambrechts Interesse wuchs, was Mülenberk die ganze Situation nicht angenehmer machte. »Ein alter Freund eben«, wich er aus. »Wir wollen uns dort treffen.«
»Und der Freund sagte: Komm ins Haus von Kassiopeia?«
»Ja. Er sagte: Komm ins Dorf und komm ins Haus von Kassiopeia!«
»Mehr sagte er nicht? Nur: Komm ins Haus von Kassiopeia?«
»Komm ins Dorf und frage nach dem Haus von Kassiopeia. Sei um zwölf Uhr dort. Mehr sagte er nicht.«
»Dann sollten Sie jetzt gehen, sonst kommen Sie zu spät.«
»Wo finde ich denn nun das Haus?«, fragte Mülenberk irritiert.
»Das Haus … das Haus werden Sie sofort erkennen. Gehen Sie einfach die Straße ein Stück weiter hoch.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ließ er Mülenberk stehen.
Als Mülenberk die Kirche verließ und auf die Straße trat, läutete die kleine helle Glocke zwölfmal.
3. Kapitel
Wie ein gieriges Monster fraß sich die schwere Maschine lautstark durch den Wald. Mit ihrer Riesenfaust packte sie die vierzig Meter hohen Fichten wie Schnittblumen am Stamm, sägte sie in Sekundenschnelle ab und entastete sie, um sie dann behutsam abzulegen und auf Länge zu sägen. Ludwig Meier liebte seine Arbeit. Früher hatte er sich mit der Motorsäge durch die Fichtenbestände gekämpft. Dann hatte er einen Holzvollernter, einen sogenannten Harvester bei der Arbeit gesehen, der am Tag problemlos zweihundert Bäume schaffte, wofür Meier, wenn es gut lief, zehn Tage gebraucht hatte. Er hatte nicht eher geruht, bis er sich einen gebrauchten Harvester leisten konnte. Fast hunderttausend Euro hatte er zahlen müssen.
Das Geld dafür konnte er allerdings nicht mit der Motorsäge verdienen, deshalb hatte er begonnen, mit Holz zu handeln. Er hatte schnell heraus, dass den meisten Kleinwaldbesitzern in der Eifel jegliche Erfahrung beim Holzverkauf fehlte. Er zahlte einen besseren Preis als die großen etablierten Forstunternehmen und er zahlte immer einen gewissen Anteil bar aus, was die anderen mit ihren Warenwirtschaftssystemen nicht konnten. Die konnten allerdings auch beim Aufmaß und der Abrechnung keine Stämme vergessen. Wenn Bargeld vorbei am Fiskus lachte, fraß die Gier den Eifelern das Hirn auf. Mit ein paar Gesprächen unter vier Augen, ein paar Bier hier und ein paar Schnäpsen da, hatte Ludwig schnell das Vertrauen der Leute gewonnen. Außerdem saß sein Handelspartner in Belgien. Wenn sie erst einmal das Bargeld in der Tasche hatten, war es