Blutdorf. Rolf Eversheim
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»Ja, frag nur.«
»Wieso bist du hier?«
Mingan schwieg lange, während er mit einem Stück Holz vor sich in die Erde malte. Schließlich schaute er sie an. »Wie dankbar bin ich für deine Frage, Julia. Sie ist wie ein Geschenk für mich. Denn manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich vergessen, warum ich hier bin. Mein Stamm gab mir den indianischen Namen Mingan, was so viel wie Grauer Wolf bedeutet. Unser Stamm lebte immer in Frieden mit den Wölfen, bis eines Nachts ein Wolf in das Zelt des Häuptlings, der unterwegs war, um seinen Stamm zu schützen, eindrang und seine beiden kleinen Kinder tötete.«
»Vielleicht war er hungrig?«, vermutete Julia.
»Nein, das war er nicht. Er hat die Kinder mit gezielten Kehlbissen getötet, dann verschwand er im Dunkel der Nacht. Noch heute höre ich manchmal im Traum das Schreien der Kinder.«
»Wie ging es dann weiter? Mit dir und dem Stamm?«
»Es herrschte große Ratlosigkeit und Trauer, nicht nur um den Tod der Kinder, sondern auch um den Verlust des Vertrauens zu den Wölfen. Die Ältesten, Medizinmänner und Häuptlinge von sechs befreundeten Stämmen, trafen sich zur Beratung auf dem heiligen Berg, einem verborgenen Ort, der nur in höchster Gefahr aufgesucht werden darf. Nach sieben Tagen der Beratungen und des Fastens stiegen sie herab und überbrachten ihren Stämmen die Nachricht, dass das Gleichgewicht zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Wölfe aus den Fugen geraten sei.«
»Das ist hier nicht anders, Mingan, der Wolf kommt zurück in eine Welt, die es für ihn noch nie gab. Und in der ich auch keinen Platz für ihn sehe.«
»In meinem Land war und ist es anders. Es ist ausreichend Lebensraum für alle dort. Deshalb habe ich es auch nicht verstanden, dass mein Stamm weiterzog.«
»Wohin seid ihr gezogen?«
»Mein Stamm zog immer weiter nach Süden. Ich blieb.«
»Du bliebst alleine zurück?«
»Ja, Julia, fortzugehen, fühlte sich nicht richtig an.«
»Aber jetzt bist du hier?«
»Letztendlich führte mich ein langer verschlungener Pfad hierher. In jenen Tagen bereiste eine Forschergruppe aus Deutschland unser Land und wir fanden uns. Sie waren auf der Suche nach dem uralten tradierten Wissen unserer Medizinmänner, um Heilungswege für bisher noch unbesiegte Krankheiten zu erkunden. Ich schloss mich ihnen an. Als sie ihre Arbeit beendet hatten, folgte ich ihnen nach Deutschland. Schnell lernte ich eure Sprache, besuchte eure Schulen und studierte in Bonn Medizin.«
»Du bist Arzt?«, fragte Julia erstaunt.
»Unmittelbar vor dem Staatsexamen führte die Fügung mich zu einem weisen Mann. Diese schicksalhafte Begegnung veränderte mein Leben radikal. Kurze Zeit nachdem der Angriff des Wolfes unsere Stämme im Innersten erschüttert hatte und ich alleine lebte, verlor ich sämtliche Haare. Was im westlichen Kulturkreis als kosmetisches Problem und dem diffusen Krankheitsbild Alopecia universalis betrachtet wird, spielt in unserem indianischen Kulturkreis eine ganz andere Rolle: Danach erfüllt jeder Teil des Körpers hochsensible Arbeit für das Überleben und Wohlergehen des Körpers als Ganzes. Der Körper hat einen Grund für jeden seiner Teile. Haare sind gewissermaßen eine Erweiterung des Nervensystems.«
»Hört sich gerade so wie in der Geschichte von Samson und Delilah in der Bibel an«, fasste Julia zusammen. »Als Delilah Samsons Haare schnitt, war der einst unbesiegbare Samson besiegt.«
»Da, sieh an, die Bibel. Wie dem auch sei, keine schulmedizinische Kunst war in der Lage, meinen Haarwuchs wieder zu aktivieren. In einer Vorlesung über die Behandlung von Krebskrankheiten erwähnte der Professor ganz nebenbei, dass er gelegentlich mit einem sogenannten Heiler zusammenarbeite und dass er das Gefühl habe, dass diese Therapiebegleitung den Patienten durchaus helfen würde. Ich ging nach der Vorlesung zu ihm und wollte wissen, was denn dieser Heiler genau mache. Er sagte nur, ich solle ihn selber fragen und nannte mir seinen Namen: Jürgen Bongardt. Wenige Tage später stand ich dann in Rheinbach und klingelte an der Tür, neben der ein Messingschild darüber informierte, dass in diesem Haus das Institut für spirituelle Heilkunst zu finden sei. Während ich noch zögerte, ob alles vielleicht nur Spinnerei sei, wurde die Tür geöffnet und ich stieg eine Treppe hoch, an deren Ende mich ein ebenso freundlicher wie fülliger Mann mit einer ungewöhnlichen Ausstrahlung erwartete. Er schaute mich fragend an. Ich nannte meinen Namen und den Grund meines Besuches. Er bat mich hinein, mit den Worten, dass ich Glück hätte, er habe heute keinen Termin. Ich erzählte ihm von mir und ein Wort ergab das andere.«
»Was war denn das Schicksalhafte an dieser Begegnung?«
»Nun, im Verlaufe des Gespräches erzählte ich ihm von meiner Alopecia universalis, also dem ausbleibenden Haarwuchs, und dass die Medizin mir nicht helfen könne. Dann erzählte Jürgen – wir fanden uns auf Anhieb sympathisch und duzten uns gleich – seine Sicht der Dinge: Siehst du Mingan, sagte er, Haare stehen symbolisch für die Vergangenheit eines Menschen. Alles Wichtige hinterlässt in den Haaren seine Spuren. Darum ist Haarausfall primär ein Signal, dass das Körperbewusstsein dabei ist, Vergangenheit loszulassen. Beziehungsweise konkreter: das Belastende unserer Vergangenheit. Auf der Körperebene findet über die Kopfhaut viel Entgiftung statt, aber natürlich, nur wenn der Mensch zum Beispiel aufgrund seiner Vergangenheit sauer ist, also im Körper übersäuert ist. Das Zuviel an Säure auf der Kopfhaut verursacht dann den Haarausfall. Bei dir ist das Thema, dass du dieses Loslassen nicht zulassen willst.« Mingan sah ins Feuer, während er mit Julia sprach. »Jürgen schaute mich fragend an und ich musste ihm recht geben. Ich hatte weder meinen Stamm noch die Geschichte mit dem Wolf losgelassen. Er schien nichts anderes erwartet zu haben und fuhr mit seinen Erklärungen fort: Viele Menschen, sagte Jürgen, ziehen ihre Lebenskraft aus ihrer Vergangenheit. Man erkennt sie daran, dass sie ständig von vergangenen Ereignissen oder Erfolgen erzählen. Ihr Bewusstseinsfokus liegt viel zu oft in der Vergangenheit, statt im Hier und Jetzt. Nur wenn zwischen dem Fokus auf Vergangenheit und Zukunft Harmonie herrscht, ist der Mensch in seiner Mitte. Die wahren Ursachen deines fehlenden Haarwuchses liegen im Thema: Loslassen der Vergangenheit beziehungsweise dem Loslassen der negativen Bewertung der Vergangenheit. Nur wer mit den Ereignissen seiner Vergangenheit in Frieden ist, kann seine Vergangenheit loslassen und im Hier und Jetzt gut verwurzelt sein. Diese Verwurzelung eines Menschen spiegelt sich im Zustand seines Wurzelchakras,
aber auch in der Verwurzelung seiner Haare in der Haut. So ist auch hier wieder der Haarausfall der direkte Spiegel des Seelenthemas: Loslassen der Vergangenheit.«
Julia betrachtete die Haarpracht des Indianers. »Du hast also losgelassen?«
»Ja, ich konnte alles ganz leicht loslassen, nachdem Jürgen mein Wurzelchakra harmonisiert hatte, also jenes Chakra, in dem mein Festhalten an der Vergangenheit energetisch festsaß.«
Julia hatte einiges von Kassiopeia über die Bedeutung der Chakren gelernt. Verstanden hatte sie trotzdem nicht alles.
Mingan sah es ihr an, kam ihrer unausgesprochenen Bitte aber nicht nach. »Das ist zu viel jetzt, Julia. Vielleicht magst du selber mal nach Rheinbach fahren. Aber lass dir vorher einen Termin geben. Jürgen ist gefragt. Mir wurde durch diese Begegnung und meine Heilung jedenfalls klar, dass die klassische Medizin für mich nicht der richtige Weg ist. Ich besann mich auf unser altes indianisches Wissen und begann, mich intensiv mit Schamanismus und seinen Möglichkeiten in der westlichen Welt zu beschäftigen. Das Medizinexamen habe ich dabei aus den Augen verloren. Mein Weg führte mich irgendwann in diese Gegend und ich blieb hier.«