Deutschstunde. Siegfried Lenz

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Deutschstunde - Siegfried Lenz

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knapp unter dem Kamm des Deiches, wo ich mich, falls sie sich umsahen, nur zu bücken brauchte, um nicht entdeckt zu werden. Sie überquerten den Deich dort, wo mein Vater sein Fahrrad hinaufschob auf seinen unzähligen Fahrten nach Bleekenwarf, zögerten oben nicht einen Augenblick in üblicher Bewunderung des Meeres, sondern stürzten gleich zur Seeseite hinunter, zu dem Pfad, der neben dem befestigten Ufer entlanglief, die Krümmung des Deiches wiederholend bis zum Gasthaus »Wattblick«, bis zur Halbinsel.

      Hier blieben sie stehen. Sie standen dicht nebeneinander. Hilke lehnte eine Schulter gegen seine Brust, deutete auf die Nordsee hinaus, wo ich nichts Bemerkenswertes erkennen konnte, beschrieb mit ausgestrecktem Arm einen langsamen Bogen, woraus hervorging, daß sie ihm die Nordsee schenkte samt allen Muscheln, Wellen und Minen und allen Wracks auf dem trüben Grund. Addi legte meiner Schwester eine Hand auf die Schulter. Er küßte sie. Dann nahm er ihr den Korb aus der Hand und gab ihr die Möglichkeit, ihn zu umarmen, doch Hilke umarmte ihn nicht, sondern sagte etwas, worauf er auch etwas sagte in gespannter Körperhaltung, zur sandhellen Spitze der Halbinsel deutete und nun seinerseits meiner Schwester ein Stück Nordsee schenkte, schätzungsweise anderthalb Quadratkilometer.

      Das Meer schlug gegen die Steine der Uferbefestigung, es sprühte bis zu ihnen hin, und steile, schaumige Zungen schossen aus den Ritzen zwischen den Steinen hervor, fielen klatschend zurück, und draußen über der See wuchs eine dunkle Takelage aus Regenwolken, schob sich gebläht heran unter vollen Mars- und Bram- und Großsegeln, was Addi augenscheinlich veranlaßte, etwas zu sagen, worauf meine Schwester auch etwas sagte und sich lachend zurückbog, so daß ihm wohl nichts anderes übrigblieb, als ihren Arm zu packen in spielerischem Polizeigriff und sie abzuführen den fleckigen Pfad entlang.

      Unmittelbar neben dem Pfad zog sich eine Flutlinie von Seetang, verdorrtem Pfeilgras und Geröll hin, und parallel zu ihr liefen andere, ältere Linien: jede große Flut hatte so ihre Markierung hinterlassen, ihren Erinnerungsstreifen, der von der winterlichen Kraft der See zeugte oder von ihrem winterlichen Grimm. Jede Flut hatte etwas anderes erbeutet, eine hatte weißgewaschenes Wurzelwerk aufs Land geschleudert, eine andere Korkstücke und einen zerschlagenen Kaninchenstall, da lagen Tangknollen und Muscheln und zerrissene Netze und jodfarbene Gewächse, die wie groteske Schleppen aussahen, und meine Schwester und der Akkordeonspieler gingen an allem vorbei zur Halbinsel. Sie stiegen nicht hinauf zum Gasthaus »Wattblick«, sie gingen auf der Seeseite vorbei, Hand in Hand jetzt, von sprühender Gischt getroffen, mit brennenden Gesichtern. Draußen, wo die Halbinsel flach in die Nordsee stach, waren die schafwolligen Schaumkronen der Strandwellen zu sehen, die aus schwarzer Weite anliefen und sich im seichten Grund zerschlugen, wie ein Lauffeuer schäumten sie heran, bergauf und bergab, begleitet von einem unablässigen Summton.

      Die Halbinsel stand in der See wie ein scharfer Schiffsbug, sie stieg nur langsam an zu einem gefalteten Dünenbuckel, der baumlos war, mit hartem Strandhafer bedeckt. Dort nisteten die Möwen. Dort bauten sie ihre kümmerlichen Nester in jedem Frühjahr; zwischen der Hütte des Vogelwarts und der Hütte des Malers, die frei am Fuß einer Düne lag und ein niedriges, aber sehr breites Fenster zum Meer hin hatte.

      Ich ging jetzt auf dem Deich im Schutz des Gasthauses, verlor Hilke und ihren Addi aus den Augen, den Akkordeonspieler, der, vermutlich auf Wunsch meiner Schwester, sein Akkordeon mitgeschleppt hatte zu uns und gewiß auch schon darauf gespielt hätte, wenn meine Mutter nicht jedesmal mit schweigender Mißbilligung aus dem Zimmer gegangen wäre, sobald er nach dem Instrument gegriffen hatte, das mit den silbernen oder versilberten Initialen A.S. geschmückt war. Mein Vater hätte sich gern sein Lieblingslied vorspielen lassen, und ich hätte mir auch gern ein Lied von Addi gewünscht, doch da meine Mutter es offensichtlich nicht duldete, stand das schwere Akkordeon nur in Hilkes Zimmer herum. Ich überlegte mir schon, das Instrument heimlich auszuprobieren, nachts in meinem alten Kastenwagen.

      Auf der hölzernen Plattform des Gasthauses blieb ich stehen, linste durch eines der beiden Aussichtsfenster in den Gastraum, in dem nur ein einziger, dunkler Mann an einem leeren Tisch saß, der Mann streckte mir die Zunge heraus, tat so, als wolle er den Aschenbecher nach mir werfen, auf dem eine abgenagte Makrelengräte lag, da flitzte ich unter der Fensterfront hindurch und gleich wieder auf die Böschung des Deiches, wo ich Hilke und ihren Verlobten schräg vor mir hatte. Sie gingen hintereinander auf den Steinen der Uferbefestigung, bis das Land sich senkte und in den flachen, hellen Strand der Halbinsel auslief, und als sie den Strand überquerten, Hand in Hand wieder, gegen den Hintergrund der See, zwischen Treibholz und Tang – als sie durch die Einsamkeit den Dünen zustrebten, da hätte man sie durchaus für Timm und Tine halten können, das Paar aus Asmus Asmussens Roman »Meeresleuchten«.

      Nein, das ist unwahrscheinlich, denn Timm hätte nicht besorgt auf die Regenwand über der Nordsee gezeigt, er hätte vor allem nicht gefroren, so wie Addi fror, auch hätte er sich nicht so tief und erschrocken weggeduckt, als eine Blaumantelmöwe mit angewinkelten Schwingen auf ihn hinabstürzte, ein weißes Geschoß, das sich mit pfeifendem Geräusch näherte. Addi war so erschrocken, daß er sich nicht nur duckte, sondern auch wegdrehte, als die Möwe auf ihn hinabstürzte, so daß er nicht sah, wie sie dicht über ihm den Sturz auffing und sich vom Wind emporreißen ließ in sichere Höhe, wo sie gellende Warnungen ausstieß und ein Keckern und Klagen. So fing es immer an. Eine Möwe eröffnete den Angriff. Eine Blaumantelmöwe. Eine Stummelmöwe. Eine Hutmöwe. Keine Möwe an unserer Küste gibt ihre Eier freiwillig heraus. Sie greifen an. Rotäugig, gelbschnäbelig. Sie fliegen Scheinangriffe.

      Das hatte der Akkordeonspieler noch nicht erlebt, möchte ich annehmen, wie auf einmal zwei Millionen Möwen gellend aufstoben, eine silbergraue Wolke über der Halbinsel entstehen ließen, die rauschend und flatternd mit irrsinniger Empörung stieg und fiel, eine Wolke, die kurvte, sich verschob und klatschend formierte, wobei ein weißer Regen von Möwenfedern niederging, oder, das ist vielleicht besser, ein Schnee aus Daunen, der das Tal zwischen den Dünen füllte, locker und warm, so daß meine Schwester und ihr Verlobter ohne weiteres hätten schlafen gehen können, wenn sie es gewollt hätten. Mir sprang das Herz, um es mal so auszudrücken.

      Sobald die Möwen von ihren kümmerlichen Nestern aufgestiegen waren und einen neuen lärmenden Himmel gezogen hatten, lief ich den Deich hinab zum Strand, fand Deckung hinter einem zerschlagenen Fischkasten und lag atemlos in dem Toben, das die Luft erfüllte, fest in meiner Hand den Stock, mit dem ich, wenn es sein mußte, einer der blaugrauen Tauchermöwen den Kopf abschlagen würde. Vielleicht würde ich ihr auch nur einen Flügel abschlagen, sie nach Hause tragen und ihr das Sprechen beibringen.

      Die Möwen hatten mich längst entdeckt, auch über mir kreiste die Wolke, auch über mir klatschten und flatterten zornige Schwingen, und während die schweren Bürgermeistermöwen Höhe zu gewinnen suchten wie schwere Bomber, kurvten die wendigen Stummelmöwen dicht über dem Strand, in eleganter Wut stießen sie auf mich hinab, mit sausendem Luftzug, winkelten vor mir ab und zogen in steiler Kurve weit aufs Meer hinaus, wo sie sich zu neuen Angriffen formierten.

      Ich sprang auf, zog meinen Stock in schnellen Kreisen über dem Kopf, so wie irgend jemand – aber wer nur? – es mit seinem Schwert getan hatte, um unter dem Regen trocken zu bleiben, und so verließ ich den Strand, fuchtelnd, schlagend, lief unter den pfeilschnellen Angriffen den beiden Spuren nach, den einzigen Spuren im feuchten Sand.

      Nur ein kurzer, angestrengter Lauf zwischen den lieblosen Gelegen, in denen die blaugrünen, grauen und schwarzbraunen Eier lagen, dann sah ich sie wieder vor mir.

      Addi war tot. Er lag auf dem Rücken. Eine Sturmmöwe hatte ihn getötet, oder zehn Heringsmöwen und neunzig elegante Seeschwalben. Sie hatten ihn durchlöchert, durchbohrt. Meine Schwester kniete neben ihm, machte sich gelassen und sachgemäß, jedenfalls klaglos, an seiner Kleidung zu schaffen – sie, die alles beherrschte, plante und festlegte und die alles ertragen konnte außer Unsicherheit und Zaudern – und senkte ihr Gesicht tief über sein Gesicht, umarmte ihn, legte sich über ihn, und sie schaffte es tatsächlich: Addis Beine machten wieder kurze stoßende, schlagende und zuckende Bewegungen, er warf seine

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