Deutschstunde. Siegfried Lenz
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4 Der Geburtstag
Immer höher, schneller und steiler. Immer kraftvoller die Schwünge. Immer näher der breiten, zerzausten Krone des alten Apfelbaums, den noch Frederiksen gesetzt hatte, als er jung war. Das sauste nur so, wenn die Schaukel an zitternd straffen Seilen zurückfiel aus grüner Dämmerung, die Ringe knarrten, ein scharfer Luftzug entstand, und über Juttas gestreckten, ausbalancierten Körper flog das Muster der Geästschatten. Hoch stieg sie auf, hielt sich eine Sekunde still in der Luft, stürzte, und in diesen Sturz mischte ich mich ein, indem ich das vorbeifliegende Schaukelbrett oder Juttas Hüfte oder ihren kleinen Hintern blitzschnell erwischte und vorwärts, aufwärts stieß in die Krone des Apfelbaums; wie von einem Katapult schnellte sie hinauf mit flatterndem Kleid, mit gespreizten Beinen, und der sausende Luftzug modellierte an ihr herum, zerrte ihr Haar nach hinten oder ließ das knochige, spottlustige Gesicht noch schärfer werden. Sie war darauf aus, sich mit der Schaukel zu überschlagen, und ich war darauf aus, ihr den nötigen Schwung zu liefern, aber wir schafften es nicht, selbst als sie sich breitbeinig auf das Schaukelbrett stellte, schafften wir es nicht, weil der Ast zu krumm war oder der Schwung nicht groß genug: damals in des Malers Garten, an Doktor Busbecks sechzigstem Geburtstag. Und als Jutta merkte, daß ich es nicht schaffen würde, ließ sie sich wieder auf das Schaukelbrett hinab und schwang lächelnd und ehrgeizlos hin und her und hörte nicht auf, mich anzusehen auf eine von niemandem geschulte Art, bis sie mich auf einmal in der Grätsche ihrer mageren braunen Beine fing und festhielt: da wußte ich einfach nicht, was ich noch hätte wahrnehmen können außer ihrer Nähe. Jedenfalls begriff ich ihre Nähe, und sie begriff, daß ich begriff, das möchte ich behaupten, und ich befahl mir, ganz ruhig zu sein und abzuwarten, was da noch geschehen könnte, aber es geschah nichts weiter: Jutta küßte mich nur trocken und nachlässig, öffnete die Klammer ihrer Beine, rutschte von der Schaukel und lief zum Haus hinüber, wo Ditte sich aus einem der vierhundert Fenster hinauslehnte und auf flacher Hand einige Stücke blaßgelben Streuselkuchen hielt, so wie man etwas den Vögeln hinhält.
Ich schnappte meinen Stock und lief hinterher. Ich sprang über die Blumenbeete und Stauden und versuchte, den Weg abzukürzen, doch all unsere Eile lohnte sich nicht, denn noch bevor Jutta oder ich am Fenster waren, sah ich Jobst aus dem strohgedeckten Gartenhaus hervorbrechen oder rollen, ein gewalttätiger Kugelblitz, ein feistes, aber flinkes Ungeheuer mit sehr kurzen Fingern und aufgeworfenen Lippen, das achtlos durch großen Mohn und Zinnien stampfte, durch all die miteinander rivalisierenden Farben, und natürlich war er als erster am Fenster, riß die Kuchenstücke von Dittes Hand, schob sich zwei in die Tasche und schlang das dritte herunter mit genußvoll geschlossenen Augen. Ihm war anzusehen, daß er nichts herausrücken würde von dem erbeuteten Kuchen – nie hat der mal etwas gelockert, was in seinen Besitz geraten war –, darum versuchte Ditte erst gar nicht, ihn mit mahnenden Worten zu überzeugen, sondern winkte uns in die Wohnstube hinein.
Ich hätte Jutta gern eingeholt in der Düsternis des Flurs, aber sie war mir voraus, sie antwortete nicht auf meinen Anruf, öffnete schon die Tür, als ich noch nach ihr tastete zwischen einem Spalier von Kübeln, Besen und Truhen. Sie ließ die Tür offen. Sie wandte sich nicht einmal um. Die Stille machte mich mißtrauisch, und ich ging leise bis zur Türschwelle und glaubte die Wohnstube leer und verlassen und dachte: Wo steigt denn nur der Geburtstag, wenn nicht hier, doch dann, als ich zögernd eintrat und mich umwandte, erschrak ich, wie jeder erschrocken wäre, der die Wohnstube betreten hätte mit meinen Erwartungen: an dem schmalen, unbegrenzten Geburtstagstisch saß feierlich altersgraues Meergetier und trank schweigend Kaffee und würgte schweigend, ganz versenkt in eigensinnige Kontemplation, trockenen Sandkuchen und Nußtorten und blaßgelben Streuselkuchen herunter. Stelzbeinige Hummer, Krabben und Taschenkrebse hockten auf den hochmütigen, geschnitzten Sesseln von Bleekenwarf; hier und da verursachten harte, gepanzerte Glieder ein trockenes Knacken, eine Tasse klapperte, wenn knochige Hummerscheren sie absetzten, und einige streiften mich mit einem Blick aus gleichgültigen Stielaugen, unerschütterlich, mit der monumentalen Gleichgültigkeit gewisser Gottheiten, das möchte ich meinen. Dabei glich diese schweigende Versammlung von Meergetier durchaus Leuten, die ich kannte: zwei sahen aus wie die alten Holmsens von Holmsenwarf, ich glaubte Pastor Treplin zu entdecken und Lehrer Plönnies, und dann machte ich meinen Vater aus und sogar Hilke und Addi, und neben der zartesten Meerforelle, die so sehr Doktor Busbeck glich, saß mit abweisendem Gesicht und strengem Haarknoten als Zackenbarsch meine Mutter. Einer allerdings flatterte, quakte und bewegte sich lustig wie ein Laternenfisch, und das war der Maler.
Es war auch der Maler, der plötzlich rief: Laß man die Kinder am lütten Tisch ätn, aber da war Ditte schon neben mir und zog mich zu dem kleinen Tisch und drückte mich sanft nieder auf einen altmodischen Stuhl, der mich sogleich zwang, still zu sitzen und den Körper steif aufrecht zu halten, weil ich sonst auf der leicht abgeschrägten Sitzfläche ins Rutschen gekommen wäre. Ditte nahm mir den mit Reißnägeln besetzten Stock aus der Hand und legte ihn aufs Fensterbrett. Sie forderte Jutta auf, mir Milch einzuschenken, und drehte den runden Kuchenteller ein wenig, etwa um das Maß einer Viertelstunde. Dann langt man zu, sagte sie freundlich und klopfte mir den Nacken, bevor sie zurückkehrte zu der phantastischen Versammlung und sich dort auch gleich verwandeln ließ, als flache Seezunge Platz nahm.
Ich vergaß den Kuchen, ich vergaß auch die Milch. Unablässig beobachtete ich Jutta, die mir gegenübersaß und an deren Aufmerksamkeit mir auf einmal so viel gelegen war, daß ich ihr stumm befahl, mich anzusehen, und als dies mißlang, sie unter dem Tisch anstieß einmal und noch einmal, bis sie ihre Füße zurückzog – nicht vorwurfsvoll, sondern mit einem Gesicht, das erstarrt war vor Abwesenheit. Ich wußte nicht, was sie überlegte, träumte, erwog, ich sah nur in ihre dunklen, abwesenden Augen, in denen die Flammen der schrägstehenden Sonne glänzten; ich verfolgte, wie ihre starken Schneidezähne sich in den Kuchen senkten, abbissen, während ihr Blick an mir vorbeilief quer durch die Wohnstube, in der auch jetzt die Stille vieler Jahre lag und die Einsamkeit vergangener Winter.
Juttas rot-weiß kariertes Kleid, die dünnen Arme, das strähnige Haar, die blassen Lippen, die jedes Wort in jedem Augenblick widerrufen konnten: wie leicht die Erinnerung daran gelingt und wie wenig zu tun ist, um sie noch einmal an den kleinen Tisch zu bitten, mir gegenüber, und wie prompt ich mein Erstaunen darüber wiederholen kann, daß sie die Schaukel und meine Anstrengungen an der Schaukel so schnell vergessen hatte. Aber so war Jutta: in einer Sekunde noch anwesend, beteiligt oder mitverschworen, zog sie sich in der nächsten zurück. So war sie eben, aber ich hatte doch nicht damit gerechnet, daß sie plötzlich aufstehen und, den Streuselkuchen locker zwischen den Zähnen, quer durch die Stube zum Geburtstagstisch gehen, dort mit Addi Skowronnek kurz flüstern würde – so in einer Art, daß er allenfalls Überraschung, aber keinen Protest