Deutschstunde. Siegfried Lenz

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Deutschstunde - Siegfried Lenz

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und spürte die zornige Klammer am Handgelenk, während wir über die Dünen stolperten und dann hinauf auf den Deich, wo das Dienstfahrrad lag. Mein Vater sagte kein einziges Wort, und ich wagte nichts zu sagen, weil meine Angst mir vorauslief, weil ich in der Tiefe meiner Angst wußte, was mich erwartete, ein Wort hätte nichts geändert, und so saß ich verkrampft auf der Querstange, hielt mich ganz fest, während er anschob und aufsaß und es fertigbrachte, bei seitlichen Böen unter dem Gewitter anzutreten und den Deich hinabzufahren, ohne auch nur ein einziges Mal abzusteigen. Ich wußte, was ihm dieser Weg abverlangte an Kraft und Aufmerksamkeit. Ich hörte ihn dicht an meinem Kopf schnaufen und keuchen, hörte ihn ächzen, wenn er mit heftigen Regungen Windstöße parierte. Wenn er zumindest geflucht hätte! Wenn er mir nur eine geschmiert hätte, als er mich aus der Hütte riß! Alles wäre leichter gewesen, und ich hätte mich sogar mit meiner Angst befreunden können. Aber mein Vater schwieg auf der ganzen Fahrt, er strafte mich mit einem Schweigen, das die endgültige Strafe erst ankündigte, das war so üblich bei ihm: alles wurde angekündigt, vorbedeutet, er war kein Mann der Überraschung, und wenn er, sagen wir mal, aus beruflichen Gründen einzuschreiten hatte, dann tat er es nur selten ohne den Hinweis: Achtung, ich schreite jetzt ein.

      Wortlos fuhren wir also den Deich hinab und dann über den Ziegelweg nach Hause; an der Treppe ließ er mich abspringen, befahl mir mit einer Bewegung des Zeigefingers, das Fahrrad in den Schuppen zu bringen, und als ich zurückkam, packte er wieder mein Handgelenk und zog mich ins Haus. Im Gehen befreite er sich aus dem Umhang, vermied es, mir in die Augen zu blicken – gerade als fürchte er, seine angesammelte Enttäuschung oder Wut könnte sich zu früh entladen –, und ging hinter mir die Treppe hinauf zu meinem Zimmer, in dem schon Licht brannte. Seit sie meinen älteren Bruder Klaas nach seiner Selbstverstümmelung abgeholt hatten, wohnte ich allein in dem Zimmer, mir gehörten die Wände und das Fensterbrett, ich hatte den ausziehbaren Tisch für mich, der ganz bedeckt war von einer blauen Meereskarte aus Leinwand, auf der die riskantesten Seeschlachten geschlagen wurden, und ich besaß sogar einen Schlüssel und konnte mein Zimmer abschließen. Es brannte Licht. Ich sah das Licht durch die Ritzen schimmern und wußte da auch gleich, wer im Zimmer hochaufgerichtet neben dem Schrank stand mit festem, strengem Haarknoten und gekrümmten Lippen, ich sah meine Mutter durch die geschlossene Tür in all ihrer anmaßenden Starre, und als Vater öffnete, blieb ich ohne Überraschung auf der Schwelle stehen. Er stieß mich ins Zimmer. Er blickte erwartungsvoll auf Gudrun Jepsen, die sich nicht rührte, die mich ansah wie von weit her. Er wartete sehr lange, ehe er sagte: Da ist er, und danach schräg durch das Zimmer ging mit großer Beflissenheit, fragend auf meine Mutter sah, den Stock unter meinem Bett hervorzog, wieder fragend auf meine Mutter sah, und dann zurückkam und sagte: Runter mit den Hosen. Ich wußte, daß er das sagen würde, doch ich tat nichts, um seinem Befehl zuvorzukommen, ich zog meine Hosen aus, reichte sie ihm, sah zu, wie er die nassen Hosen sorgfältig glättete und auf den Tisch legte, bückte mich noch nicht, sondern wartete erst den Befehl: Bück dich! ab, legte die Handflächen auf die zitternden Oberschenkel und richtete mich blitzschnell auf, bevor der erste Schlag erfolgt war.

      Mißbilligend, ich meine sogar befremdet, ließ er den Stock sinken, suchte den Blick meiner Mutter, als ob er sich entschuldigen müßte für mein Versagen, doch meine Mutter rührte sich nicht. Der Stock hob sich wieder, ich bückte mich, spannte mein nacktes Gesäß und sah seitwärts auf meine Mutter, mit zusammengepreßten Zähnen, und auch diesmal richtete ich mich blitzschnell vor dem Schlag auf. Ich machte zwei Lockerungsschritte. Ich massierte einmal kurz mein Gesäß, trat zurück und krümmte mich unter dem immer noch erhobenen Stock. Diesmal war ich entschlossen, den Schlag hinzunehmen, doch bevor der Stock pfeifend niedersauste, wurden die Nägel des Fußbodens lebendig, Krebse kniffen sich in meinen Kniekehlen fest, ein Albatros hieb auf meinen Nacken ein, da war nichts zu machen: ich fiel auf die Knie und wimmerte.

      Das hatte meine Mutter mir wohl nicht zugetraut, sie erwachte aus ihrer Starre, sie ließ die Hände sinken und blickte mich einmal mit müder Geringschätzung an, bevor sie achtlos und nicht mehr interessiert an meiner Bestrafung aus dem Zimmer ging. Verblüfft sah ihr mein Vater nach, wollte sie wahrscheinlich zurückhalten, murmelte ihr auch etwas hinterher, doch meine Mutter war schon draußen auf dem Gang, im Schlafzimmer, der Schlüssel drehte sich schon knackend herum.

      Da zuckte mein Vater die Achseln, musterte mich verlegen, auch lustlos, und ich erkannte meine Chance: ich lächelte ihn wimmernd an und machte sogar einen Versuch, ihm zuzuzwinkern wie einem Komplizen nach bestandener Gefahr, doch das Zwinkern gelang mir augenscheinlich nicht, es geriet wohl mehr zur Grimasse, worauf mein Vater auf seine Taschenuhr blickte, mich lustlos am Hemd packte und zum Tisch schleppte. Sorgfältig drückte er meinen Oberkörper auf den Tisch hinab. Ich stemmte mich leicht ab. Er drückte wieder. Ich stemmte mich leicht ab. Er hieb mir mit der flachen Hand auf die Nackenwirbel. Ich schlug auf den Tisch auf und stemmte mich leicht ab. Unter meinem Gesicht lag die blaue Meereskarte aus Leinwand, dehnten sich die Ozeane, über die ich träumerisch herrschte, wenn ich die großen Seeschlachten nachspielte: hier hatte ich mein Lepanto, mein Trafalgar geschlagen, hier hatten sich Skagerrak wiederholt und Scapa Flow und Orkney und die Gefechte von Falkland: schiffbrüchig trieb ich jetzt in den Gewässern meiner erträumten Triumphe, mit gestrichenen Segeln.

      Ich hatte nicht damit gerechnet, daß schon der erste Schlag diesen siedenden Schmerz hervorrufen würde, weil doch Lustlosigkeit den Stock führte und eine gewisse Verdrossenheit, doch schon nach dem ersten Schlag lief ein heißer Striemen über mein Gesäß, und da ich mich aufbäumte, zwang mich die Linke meines Vaters nieder, tauchte mich in ein brennendes, tiefes Meer von Schmerz und Unterlegenheit, während die Rechte den Stock hob und ihn herabsausen ließ, scharf genug, aber auch eigentümlich zerstreut. Nachdem ich begonnen hatte, nach jedem Schlag mit einem hohen, trockenen, etwas übertriebenen Schrei zu reagieren, lauschte mein Vater von Zeit zu Zeit auf den Gang hinaus, wartend auf das Erscheinen meiner Mutter, der er mit meinen Schreien doch eine Entschädigung bot für ihre Enttäuschung.

      Da die Geräusche meiner Bestrafung ihr Ohr erreichten in der Einsamkeit und Kühle des Schlafzimmers, konnte sie doch nicht gleichgültig bleiben, dachte er, und hörte nicht auf, den Kopf zu wenden, zu lauschen und hinüberzuspähen. Mein Vater. Der ewige Ausführer. Der tadellose Vollstrecker. Meine Mutter tauchte nicht mehr auf. Selbst als ich nur noch einen kurzen, erstickten Schrei ausstieß, der ihr neu sein mußte, erschien sie nicht, was meinen Vater offensichtlich mutlos machte: die letzten Schläge fielen nur noch mechanisch, und als ich mich umsah zu ihm, winkte er mich mit dem Stock zum Bett hinüber.

      Ich ließ mich fallen. Die Stockspitze fuhr unter mein Kinn. Er zwang mich, zu ihm aufzusehen, und durch den Schleier der Tränen erschien er mir erschöpft und unglücklich, aber als wollte er diesen Eindruck bestreiten, fragte er mit angehobener Stimme: Was hast du zu sagen? Weil ich ihm eine Wiederholung der Frage ersparen wollte, antwortete ich rasch: Ich hab bei Gewitter im Haus zu sein. Er nickte und war zufrieden, zog die Stockspitze von meinem Kinn. Du hast bei Gewitter zu Hause zu sein, sagte er, ja: das verlangt deine Mutter, und das verlang auch ich: bei Gewitter – zu Hause.

      Dann zerrte er die Bettdecke unter meinem Körper hervor, deckte mich zu und saß tatenlos auf dem Holzstuhl vor meinem Ozean, das Gesicht lauschend zur Schräge verzogen und hilflos, da er ohne Auftrag war und ohne Auftrag nur ein halber Mensch. Er war nicht ungeübt in stillem, trägem Dasitzen, auch genügte er sich durchaus in ereignislosen Winterstunden, in denen er ausdauernd den Ofen beobachten konnte, aber am meisten holte er doch ohne Zweifel aus sich heraus, wenn ihm eine überschaubare und unmißverständliche Aufgabe anvertraut wurde, in deren Verfolgung er, sagen wir mal, Fragen ausdenken und sie stellen mußte.

      Ich wimmerte überzeugend. Ich beobachtete ihn mit einem Auge am Ellenbogen vorbei; die Striemen brannten, die Bettdecke lastete mit unerträglichem Gewicht auf der gesprungenen Haut, und ich wünschte ihn mir fort, verlangte nichts mehr, als allein zu sein, aber er ging und ging nicht und konnte mein Wimmern ertragen und alles. Auf einmal stand er sogar auf und kam zu mir, tippte mir leicht auf die Schulter und meinte etwa: Du brauchst nicht mehr zu verstehn, als du gesagt bekommst, das genügt: hast du mich verstanden? Ich sagte: Ja, und, um ihn loszuwerden, noch einmal:

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