Deutschstunde. Siegfried Lenz

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Deutschstunde - Siegfried Lenz

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ich darauf, ihr zu folgen. Ich legte meinen Kuchen auf ihren Teller, ich goß meine Milch in ihr Glas. Ich setzte mich auf ihren Stuhl und sah nicht einmal durch das Fenster, wo ich sie im Garten, vor der Hecke, auf der geländerlosen Holzbrücke ohne Mühe hätte wiederfinden können. Die essende Versammlung vor Augen, begann auch ich zu essen, und weil auf dem kleinen Tisch noch ein dritter Teller und ein drittes Glas standen, aß ich vorsorglich den ganzen Kuchen, trank die ganze Milch – nein, das ist unwahrscheinlich: den Rest der Milch goß ich in den tiefen Kuchenteller und weckte die Katze, die auf dem dritten, auf Jobsts Stuhl hochrückig mit eingeschlagenen Pfoten schlief, und lenkte ihren schrägen, glimmenden Blick auf die Geburtstagsmilch, die sie mit eingerollter Zunge, zunächst prüfend, dann hastig zu schlecken begann. Hinterher reinigte die Katze den Teller, so daß ich ihn wieder auf den Tisch stellen konnte, streckte sich tief, flach, leckte sich die Schenkel und kam mit vorsichtigen, langsamen Schritten auf meinen Schoß, drehte sich mehrmals um eine angenommene Achse und brach wie berechnet zusammen. Sie schlug eine gekrümmte Vorderpfote in meine Hand und schnurrte.

      Ich sah auf die schweigende Gesellschaft, die immer noch würgte und schluckte und blubberte und sich bedeutungsvoll räusperte an dem unendlichen Tisch, der sich in ferner Trübnis hinzog, womöglich bis in die Trübnis des Watts und der Priele, und jetzt erkannte ich auch meinen Großvater, Per Arne Scheßel, den gierigen Esser und Heimatkundler, sowie den Deichgrafen Bultjohann und Andersen, einen zweiundneunzigjährigen Kapitän aus Glüserup, der mindestens in fünfundfünfzig Kulturfilmen als Kapitän herhalten mußte, weil sein ebenmäßig silbriger Bartkranz so gesucht war und die wäßrige Leere seines Blicks ohne weiteres als Fernweh ausgegeben werden konnte. Wenn ich alle aufzählen wollte, die an diesem Tisch saßen, wäre der Winter vorbei und die Elbe eisfrei, darum möchte ich nur noch Hilde Isenbüttel erwähnen und den ehemaligen Vogelwart Kohlschmidt; sie machte ich aus unter den beschuppten, bogenlippigen Gästen, und ich übersah auch nicht, daß eine phosphoreszierende Garnele mit kräftigen Waden mir unaufhörlich Zeichen machte, die nichts anderes besagen sollten als: Wenn du Torte willst, komm her.

      Ich wollte keine Torte. Ich wartete darauf, daß der Geburtstag begann, aber die Gesellschaft sah nicht so aus, als würde sie je aufhören zu essen, denn da seufzte, stöhnte, kapitulierte keiner vor dem unaufhörlich kreisenden Angebot der Kuchentürme und Torten, und am wenigsten mein heimatkundlicher Großvater, der wie ein weiser, mit Seepocken besetzter Hummer dahockte und langsam, aber beständig ganze Kuchenplatten in sich hineinbrockte, wodurch er den Kulturfilm-Kapitän offensichtlich herausforderte, es ihm gleichzutun. Wenn gegessen wurde bei uns, dann wurde gegessen, und zwar schon deshalb, weil, wie mein Großvater sagte, beim Essen die Zeit gleichmäßig vergeht, und daran schien ihnen allen gelegen, sogar der uniformierte Schellfisch, den man mit meinem Vater verwechseln konnte, löffelte nur deshalb holzschuhgroße Stücke von Nuß- und Honigtorten, um das unmerkliche Verstreichen der Zeit möglich zu machen.

      Auch die Frauen waren darauf aus, den Widerstand der Zeit zu überspielen: während sie sich schläfrig über ein Stück hermachten, faßten sie schon das nächste ins Auge, und wenn sie zu würgen anfingen oder die Kinnbacken erlahmten, ließen sie dampfende Ströme von Kaffee fließen.

      Aufschlußreich sind die Einzelheiten, die sich an einer Glüseruper Kaffeetafel bemerken lassen: sieht man von der trägen Gier ab, die zu dem verblüffenden Eingeständnis bereit ist, daß man einen Gastgeber schädigen muß, so sind vor allem rühmenswert die neun vorgeschriebenen Gebäcksorten, die in festgelegter Folge herumgereicht werden müssen, die Näpfe voller Würfelzucker, den man in den Kaffee tunkt, bevor man ihn zerkaut, ferner die Schüsseln geschlagener Sahne, die man sich auf den Kaffee kleckst, nachdem man zuvor klaren Schnaps dazugegossen hat.

      Doch ich will diese Einzelheiten, aus denen durchaus eine Geschichte entstehen kann, nicht weiter ausspielen, möchte mir auch versagen, das Schweigen zu deuten, das am Tisch herrschte, vielmehr möchte ich, mit zugegebener Ungeduld, den Maler veranlassen, sich von seinem hohen geschnitzten Sessel zu erheben, zur Stirnseite des Tisches zu gehen, geradewegs zu Doktor Busbeck, der ja immerhin seinen sechzigsten Geburtstag hatte.

      Ich meine, Busbeck erschien noch zarter, verlegener, als der Maler auf ihn zuging, wie eine Muschel nach einer Berührung schmolz er in sich zusammen, wurde grau, unscheinbar, warf noch einmal den Kopf zur Seite und blickte hinter sich, als vermutete er dort noch einen Busbeck, der weniger Schwierigkeiten hatte, mit der Aufmerksamkeit fertig zu werden, der er auf einmal ausgesetzt war. Der Maler beugte sich leicht über ihn in verdienter Vertraulichkeit, tätschelte ihm den Rücken und sprach ihm so Mut zu und sagte: Lieber Teo, liebe Freunde, und der liebe Teo duckte sich unter dieser Anrede, während die lieben Freunde schmunzelnd die Blicke hoben und den kleinen Mann noch verlegener machten, wenn das überhaupt möglich war.

      Ich bin kein Freund von großen Worten, sagte der Maler und hatte ausnahmsweise recht damit und hielt sich auch an diese Feststellung, denn er beschränkte sich darauf, Busbeck an einen dreißig Jahre zurückliegenden Abend in Köln zu erinnern: wenn ich ihn recht verstanden habe, muß Ditte damals krank gewesen sein, sie lag zwar nicht in einem eiskalten, aber doch schäbigen Zimmer einer schäbigen Pension, vielleicht war auch eine Wäscheleine durchs Zimmer gespannt und die elektrische Birne von der Wirtin eigenhändig rausgedreht. Daß man die Miete schuldig war seit Monaten, vervollständigt nur die Vorstellung. Jedenfalls lag Ditte im Bett, ihr Atem ging allem Anschein nach mühselig, und der Maler, der sich erfolglos als Lehrer an einer Kunstgewerbeschule beworben hatte, wusch gerade das geliehene Geschirr ab, als ein Doktor Busbeck die unbeleuchteten Holztreppen zu ihnen hinauffand und mit erstaunlicher Scheu fragte, ob er etwas sehen dürfe. Das wollte man ihm nicht abschlagen. Man setzte ihn in eine Ecke am Fenster – so verstand ich’s – und gab ihm Gelegenheit, einige Mappen durchzusehen, und da er so wenig spürbar war in seiner Anwesenheit, ebenso leicht zu übersehen wie zu überhören, hatte man ihn – so verstand ich’s – beinahe schon vergessen und war auf alles andere gefaßt als darauf, daß der Besucher auf einmal an den wachstuchbespannten Tisch treten würde mit zehn Blättern in der Hand. Wortlos zählte er vierhundert Goldmark auf den Tisch und fragte dann lediglich, ob er wiederkommen dürfte. Da diese Frage als Bitte geäußert war, mochte sich ihr der Maler – wie er sagte – nicht widersetzen.

      So etwas kann also durchaus auch geschehen, und der Maler erinnerte sich und Busbeck heiter an diesen Märztag in Köln, er wußte sogar das Datum, und unter häufiger Benutzung des Partizips dankte er seinem Freund für mitunter nachsichtig praktizierte Freundschaft durch dreißig Jahre. Und nun bist du bei uns in Bleekenwarf, Teo. Wir vergessen nicht, was du für uns. In Köln, aber auch in Luzern und Amsterdam. Denkend an die gemeinsamen Kämpfe gegen den großen Schalberg. Deshalb möchten wir dir heute an deinem sechzigsten. Mich in diesem Kreis umblickend, kann ich nur allgemeines Einverständnis. Ja, Teo.

      Die Katze fuhr auf und sprang erschrocken von meinem Schoß, als sie sich an dem unabsehbaren Geburtstagstisch erhoben und auf Doktor Busbecks Wohl tranken, indem sie den weißen Klaren zittrig zum Mund führten und ihn hinunterkippten auf eine Weise, als müßten sie zunächst einen Widerwillen überwinden. Geräuschvoll setzten sie die Gläser auf dem Tisch ab und zerrten die Stühle ruckend, umständlich wieder zu sich heran, während er, Doktor Busbeck, stehen blieb, zart und beweglich in seiner Verlegenheit und sich zu entschuldigen schien dafür, daß die Gesellschaft sich seinetwegen hatte erheben müssen. Er trat hinter den Stuhl. Er sah auf seine Hände hinab, die über die geschnitzte Lehne strichen. Dann sagte er, was er wohl schon oft gedacht hatte, stattete dem Maler und Ditte, aber auch allen anderen, seinen Dank ab und bedauerte, daß er ihnen zur Last falle schon so lange Zeit. Er ließ ahnen, daß dies nur ein vorläufiges Leben für ihn sein könne und daß die Würde der Vergangenheit ihm nicht mehr bedeute als die Würde der Gegenwart. Ich meine, er wagte es auch, von seiner Hoffnung zu sprechen und davon, daß er eines Tages an seinen Platz zurückkehren dürfte, an dem er nützlich sein könnte. Nicht ein einziges Mal, während er sprach, warf er einen Blick auf die Versammlung, nur Ditte sah er ab und zu an mit schrägem Hals und seitwärts gelegtem Kopf, und die Frau des Malers hielt ständig ein Lächeln für ihn bereit. Und wieder dankte er. Und wieder fühlte er sich geborgen, einbezogen,

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