Deutschstunde. Siegfried Lenz

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Deutschstunde - Siegfried Lenz

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lächelte der junge Psychologe, tänzelte auf der Stelle hin und her. Die knappe Verbeugung, zu der er ansetzte, konnte ihm nicht gelingen, da er zu nah an der Tür stand. Er war drei, vielleicht fünf Jahre älter als ich, feingliedrig, sehr blaß. Seine Kleidung gefiel mir: sie war sportlich und etwas nachlässig. Ich konnte mir nicht erklären, warum er die linke Hand krampfhaft geschlossen hielt – vielleicht hielt er dort, sozusagen, ein Stück Zucker für mich bereit, vielleicht aber auch eine Waffe. Da ich ihn nicht gerufen hatte, begnügte ich mich damit, ihn schweigend zu mustern, wobei ich ihn mit einem Blick maß, in dem ärgerliches Erstaunen lag; mein Blick forderte ihn auf, sich kurz zu fassen.

      Herr Jepsen? fragte er liebenswürdig, worauf ich nach kurzem Zögern ziemlich zugeknöpft antwortete: Allerdings. Diese Antwort schien ihn keineswegs zu entmutigen, er drückte sich mit dem Gesäß von der Tür ab, bot mir eine kraftlose Hand an und sagte: Mackenroth, Wolfgang Mackenroth; es freut mich, Ihnen zu begegnen. Er lächelte mir freundlich zu, zog seinen Mantel aus, legte ihn auf den Tisch, und mit einer Vertraulichkeit, die durch nichts gerechtfertigt war, legte er eine Hand auf meinen Ellenbogen, sah mich zuversichtlich an und fragte mich mit einer Geste, ob er meinen Stuhl haben könne. Ich schüttelte bedauernd den Kopf. Er konnte den Stuhl nicht haben. Falls Sie es nicht wissen, sagte ich, hier wird gearbeitet: ich befinde mich mitten in einer Strafarbeit.

      Das war ihm bekannt. Der junge Psychologe wußte, was mir zugestoßen war, sparte nicht mit Anerkennung für mein Unternehmen, entschuldigte sich sogar für die Störung und berief sich auf eine Sondererlaubnis, die Direktor Himpel ihm ausnahmsweise gegeben hatte. Bitte, sagte er, bitte Herr Jepsen, Sie müssen mir helfen, es hängt einiges von Ihnen ab. Ich zog die Schultern hoch, ich murmelte höflich: Schmier ab, Junge, mir hilft auch keiner, und um ihm zu zeigen, daß ich keine Zeit für ihn hatte, setzte ich mich auf den einzigen Stuhl in meiner Zelle und spielte mit dem Taschenspiegel. Mein Taschenspiegel borgte sich Licht bei der elektrischen Birne, ließ den Lichtstrahl über Ofen, Ausguß, Fenster wandern, unterhielt sich kurz mit dem Guckloch, hinter dem Joswigs Auge Wache hielt, dekorierte die Decke mit ein paar flüchtigen Lichtgirlanden und schnitt lautlos die Zellentür in schmale Streifen. Da der junge Psychologe immer noch nicht ging, putzte ich mir zuletzt mit dem Lichtstrahl die Schuhe und tat alles, was man tut, wenn man sich allein fühlt. Ich übersah meinen Besuch, ich schlug mein Heft wieder auf und versuchte, mich lesend dem Garten von Bleekenwarf zu nähern. Wolfgang Mackenroth blieb. Er blieb und betrachtete mich aufmerksam und freundlich wie ein gerade erworbenes Eigentum, möchte ich mal sagen, einen noch ungewohnten Besitz, den man erst entdecken muß, und weil ich gegen meinen Willen spürte, daß dieser Wissenschaftler mir einfach durch sein kumpelhaftes Verhalten auf unerwünschte Weise sympathisch zu werden begann, fragte ich ihn, ob er sich nicht in der Tür geirrt habe. Sie, sagte er, Sie, Herr Jepsen, und ich, wir sollten uns verbünden, und dann fing er an, mich mit seinen Absichten bekannt zu machen. Der junge Psychologe war gezwungen, eine Diplomarbeit zu schreiben. Das Unternehmen, das er seine freiwillige Strafarbeit nannte, sollte ihn wissenschaftlich weiterbringen. Geschickt für uns beide Zigaretten drehend, seinen Hals massierend, schlug er mir vor, Objekt seiner Diplomarbeit zu werden. Ich sollte eingehen in seine Diplomarbeit, wie er sagte, sollte sorgfältig verarbeitet werden. Ein wissenschaftliches Begräbnis erster Klasse sollte ich also erhalten. Mein kompletter Fall, so schlug er mit sympathischer Selbstironie vor, sollte von ihm aufbereitet werden, mit allen Höhen und Tiefen und so weiter. Einen Titel hatte er schon in der Tasche: Kunst und Kriminalität, so sollte die Arbeit heißen, dargestellt am Fall des Siggi J. Damit aber diese Diplomarbeit nicht nur gelinge, sondern in der wissenschaftlichen Welt geziemende – er sagte: geziemende Beachtung finde, sei meine Hilfe unerläßlich. Dafür bot er mir zwinkernd eine witzige Entschädigung an: ein sehr seltenes Angstgefühl, das, wie er meinte, die wahre Triebfeder meiner einmaligen Aktionen gewesen sei, wollte er die Jepsen-Phobie nennen – was mir die Möglichkeit bot, eines Tages das Wörterbuch der Psychologie zu erreichen.

      Nachdem so der junge Wissenschaftler, mit der Sondererlaubnis von Direktor Himpel, all seine Pläne freimütig vor mir ausgebreitet hatte, blieb er neben dem Tisch stehen, legte mir eine Hand auf die Schulter, beugte sein Gesicht zu mir herab und inszenierte ein Lächeln, wie man es vielleicht unter Komplizen tauscht, aber doch wohl kaum zwischen einem Psychologen und einem jugendlichen Gefangenen. Das Lächeln verwirrte mich, und ich brachte es nicht fertig, ihn schweigend abblitzen zu lassen, zumal er flüsternd weitersprach und flüsternd erläuterte, wie er sich die Tendenz seiner Diplomarbeit vorstellte: verteidigen wollte er mich, freisprechen und bestätigen; meine Bilderdiebstähle wollte er rechtfertigen, und die Gründung meiner privaten Galerie in der alten Mühle wollte er als positive Leistung anerkennen; überhaupt versprach er, in mir den Grenzfall herauszuarbeiten und für mich eine Rechtsprechung zu fordern, die es noch nicht gab. Der leise, rechtschaffene Fanatismus, mit dem er mir alles entwickelte, machte ihn glaubwürdig. Ich muß zugeben, daß unter den zwölfhundert dressurbesessenen Psychologen, die unsere Insel mitunter in eine wissenschaftliche Manege verwandelten, Wolfgang Mackenroth der einzige war, dem ich bereit war, wenn auch mit Vorsicht, mein Vertrauen zu schenken.

      Was mich nur ein bißchen an ihm störte, war, daß er zuviel von mir wußte. Er hatte meine Akte ganz gelesen, er war unterrichtet. Zuerst spielte ich mit dem Gedanken, ihm bei seiner Strafarbeit zu helfen und mir dabei seine Hilfe für meine Strafarbeit zu sichern, vor allem, wenn er sich bereitfinden würde, für den Nachschub von Zigaretten zu sorgen, doch als ich heraushörte, daß er mit Direktor Himpel beinahe befreundet war, ließ ich diesen Gedanken wieder fallen. Ich musterte ihn ausgiebig: das kleine blasse Gesicht, den schlanken Hals, seine zarten Hände; ich hörte kritisch auf seine Stimme, und obwohl er bei mir, je länger sein Besuch dauerte, nicht verlor, sondern noch gewann, sagte ich ihm, daß mir sein Angebot zu überraschend gekommen sei: Ich bedauerte. Ich erbat Bedenkzeit.

      Aber besuchen, sagte er, besuchen darf ich Sie doch von Zeit zu Zeit? Das erlaubte ich ihm, und um ihn loszuwerden, nickte ich auch zu seinem Vorschlag, mir hin und wieder, in unregelmäßigen Abständen, ausgewählte, vor allem wohl kritische Abschnitte aus seiner Diplomarbeit hereinzureichen – er sagte: hereinzureichen. Er bedankte sich. Hastig, als fürchte er, ich könnte mein Einverständnis widerrufen, zog er seinen Mantel an, sagte: Ich werde Sie nicht enttäuschen, Herr Jepsen, gab mir freundschaftlich die Hand, ging zur Tür und klopfte von innen, worauf Karl Joswig, ohne sichtbar zu werden, die Tür öffnete und den jungen Psychologen herausließ. Ich horchte auf seine Schritte, er ging weg, er hatte es eilig.

      Seitdem sitze ich an dem kerbenbedeckten Tisch und versuche, zur Geburtstagsfeier zurückzukehren, mich hinabzutasten an der Kette der Erinnerung, hier zu wohnen und dort zu sein, dort in Bleekenwarf, im Garten des Malers, unter feierlichem Meeresgetier, das auf das Abendbrot wartet. Ich könnte das Abendbrot auftragen lassen, ich könnte zunächst auch, vielleicht zu Ehren von Doktor Busbeck, einen großen Sonnenuntergang entwerfen, in dem Rot und Gelb sich pathetisch unterhalten, und schließlich ließe sich wohl auch in etwa achttausend Meter Höhe der Luftkampf beschreiben, der uns damals für einige Minuten beschäftigte, doch das alles kann nichts daran ändern, daß ich der erste war, der die Geburtstagsfeier verließ. Ich verließ sie nicht freiwillig.

      Wo war es? Wo schnappte sie mich? An der Schaukel, in der Laube, auf der Holzbrücke? Die blaue Fahne hatte ich jedenfalls in der Hand, und ich war auf der Suche nach etwas, der Wind hatte nachgelassen. Auf einmal stand meine Mutter vor mir, streng, sehr erregt, sie wollte etwas sagen und konnte es nicht, nur ein kurzes Stöhnen gelang ihr, und dann bleckte sie das gelbliche Gebiß, wie so oft, wenn sie außer sich war, wenn sie verletzt und enttäuscht war. Sie griff nach meiner Hand. Sie preßte meine Hand gegen ihre Hüfte. Ruckartig wandte sie sich um, warf den Kopf in den Nacken – gerade so weit, wie es der feste, mit Netz und Haarnadeln gesicherte und an eine glänzende Geschwulst erinnernde Haarknoten erlaubte, und riß mich mit aus dem Garten, aus dem Geburtstag. Mit ihrem erschreckenden Gang, der fast etwas Panisches hatte, lief die flache, hochgewachsene Frau mir voraus und zerrte mich über den Rasen, am Atelier vorbei über den Hof, immer noch ohne ein Wort und auch achtlos an dem Kulturfilm-Kapitän Andersen vorbei, der uns nichts anderes zugerufen hatte als: Bald gibt es was zu essen, und mit mir im Schlepp stieß sie das schwingende Holztor auf und stürzte über die lange, mit

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