Deutschstunde. Siegfried Lenz
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Und ich weiß noch, als wir ans schwingende Tor kamen, stand Okko Brodersen da, der einarmige Postbote. Sein Fahrrad lehnte am Außenpfosten. Er hatte ein Papier in der Hand und hielt es hoch – zum Zeichen, daß er berechtigt sei, sich hier aufzuhalten. Mitmachen, rief Jutta, und ich wiederholte: Mitmachen, und wir bedrängten ihn ganz schön und verleibten ihn uns ein mitsamt der Post, die er gebracht hatte. Am rostroten Stall vorbei, am Teich, am Schuppen, und als wir um das Atelier bogen, blickte ich zurück und sah, daß der Gänsemarsch sich aufgelöst hatte oder dabei war, sich aufzulösen, erschöpft und begeistert, immerhin auch begeistert – was meine Mutter doch erkannt haben muß. Doch selbst in seiner Auflösung folgte der Zug noch Addi, der spielend in den Garten einbog und dort Berliner Luft Luft Luft herstellte oder zumindest ahnen ließ, worauf einige begannen, Tische und Stühle herauszutragen nach vorsorglicher Beobachtung des Himmels über der Nordsee. Die glänzenden Ritzen zwischen den dunklen Wolken ermutigten uns, desgleichen die blauen Tümpel und das flockige Weiß schnell ziehender Wolken über uns. Wir verlegten den Geburtstag in den Garten.
So, und nun möchte ich keinen daran hindern, sich den kurzen Transport der Möbel vorzustellen, das Anheben, Abnehmen, das verkantete Bugsieren durch offene Fenster, überhaupt den gutgelaunten Tumult eines Umzugs ins Freie, den Addi mit »La Paloma« und »Rolling home« begleitete, denn ich muß meinen Stock suchen, ich muß meinen mit Reißzwecken besetzten Stock wiederfinden, den ich irgendwo hingelegt hatte, als sich der Zug bildete. Aber wo? Im Wohnzimmer? Im Atelier? Ich ging die Wege ab. Ich inspizierte die Stauden. Auf dem Hof suchte ich und am Schuppen. Mein Stock lag auf keinem Fensterbrett. Er schwamm nicht im Teich. Habt ihr meinen Stock gesehen? fragte ich die beiden Männer am Teich. Mein Vater und Max Ludwig Nansen schwiegen. Sie antworteten nicht, schüttelten nicht einmal den Kopf, sondern schwiegen nur erregt, und ich suchte weiter, bis ich auf einmal einen Verdacht hatte und zurückschlenderte zum Teich, auf dem ein altes weißes Entenpaar vier jungen Enten Formationsschwimmen beibrachte. Im Schutz der gefällten, übereinanderliegenden Pappelstämme bewegte ich mich auf die alten Freunde aus Glüserup zu, schlüpfte durch einen Spalt in einen Hohlraum unter den Stämmen und sah durch einen fast ebenmäßigen Lichtschlitz den Maler und meinen Vater abgeschnitten in der Hüfte vor mir stehen, so nah, daß ich die Beutelung ihrer Taschen erkennen und sogar vermuten konnte, was sie in den Taschen trugen. Glatt und kühl war der Boden meines Verstecks, und der Wind fiel scharf durch die Ritzen zwischen den Stämmen ein. Indem ich mich hob oder in die Hocke ging, konnte ich die Männer verkleinern oder wachsen lassen, doch ihre Gesichter bekam ich nicht zu sehen, ihre Gesichter blieben außerhalb meiner Perspektive.
Zuerst merkte ich, daß der Maler da einen Brief in den Händen hielt, einen rot durchkreuzten Eilbrief, den er offensichtlich bereits gelesen hatte und den er nun meinem Vater zurückreichte, herrisch und außer sich, mit einer kurzen, heftigen Bewegung, und da wußte ich schon, daß mein Vater, vor der Wahl – entweder den Inhalt des Briefes mündlich zu wiederholen oder den Brief selbst sprechen zu lassen – sich wie immer für das entschieden hatte, was ihn am wenigsten beanspruchte. Er hatte den Maler einfach lesen lassen und nahm den Brief nun ruhig an sich mit seinen rötlich behaarten Händen und faltete ihn sorgsam, während der Maler sagte: Ihr seid verrückt, Jens, ihr könnt euch das nicht anmaßen.
Mir entging nicht, daß er von einer Mehrzahl sprach, der er meinen Vater jetzt schon ohne weiteres zuzählte. Ihr habt kein Recht dazu, sagte der Maler, und mein Vater darauf: Ich hab das nicht geschrieben, Max, ich maß mir auch nix an, und er konnte seine Hände nicht daran hindern, eine Bewegung unbestimmter Hilflosigkeit zu machen. Nein, sagte der Maler, du maßt dir das nicht an, du sorgst nur dafür, daß sie sich ihre Anmaßung leisten können.
Was soll ich denn machen? fragte mein Vater kühl, und der Maler: Die Bilder von zwei Jahren – weißt du, was das heißt? Ihr habt mir Berufsverbot gegeben. Genügt euch das nicht? Was werdet ihr euch noch ausdenken? Ihr könnt doch nicht Bilder beschlagnahmen, die niemand zu Gesicht bekommen hat. Die nur Ditte kennt und allenfalls Teo. – Du hast den Brief gelesen, sagte mein Vater. Ja, sagte der Maler, ich hab ihn gelesen. – Dann weißt du auch, sagte mein Vater, daß verfügt worden ist, alle Bilder aus den letzten beiden Jahren einzuziehen: ich hab sie morgen verpackt auf der Dienststelle in Husum abzuliefern.
Sie schwiegen, ich blickte durch den Lichtschlitz zur Seite und sah zwei schmale Hosenbeine rund wie Ofenrohre aus der Haustür treten und hörte eine Stimme rufen: Wir vermissen euch, wann kommt ihr? Worauf der Maler und mein Vater zurückriefen: Gleich, wir kommen gleich. Das beruhigte die Ofenrohre, denn sie schritten steif wieder ins Haus hinein, und nach einer Weile hörte ich meinen Vater sagen: Vielleicht, Max, werden die Bilder zurückgeschickt eines Tages? Die Kammer prüft sie nur und schickt sie dir zurück? Es klang sogar glaubwürdig, wenn mein Vater, der Polizeiposten Rugbüll, so etwa fragte oder als Möglichkeit erwähnte, und niemand mochte ihm ein anderes Wissen zutrauen neben dem, das er mit seinen Worten bekanntgab. Der Maler schien so verblüfft, daß er Zeit brauchte zu einer Antwort. Jens, sagte er dann in einem Ton von Bitterkeit und Nachsicht, mein Gott, Jens, wann wirst du merken, daß sie Angst haben und daß es die Angst ist, die ihnen rät, sowas zu tun: Berufsverbote auszusprechen, Bilder zu beschlagnahmen. Zurückschicken? Vielleicht in einer Urne. Die Streichhölzer, Jens, sind in den Dienst der Kunstkritik getreten – der Kunstbetrachtung, wie sie sagen.
Mein Vater stand dem Maler ohne Verlegenheit gegenüber, es gelang ihm sogar, in seiner Haltung ungeduldiges Begehren auszudrücken, das erkannte ich ohne Schwierigkeit, und ich war nicht überrascht, als er sagte: Is in Berlin verfügt worden, das genügt. Du selbst hast den Brief gelesen, Max. Ich muß dich auffordern, zugegen zu sein bei der Sichtung der Bilder. – Willst du die Bilder verhaften? fragte der Maler, und mein Vater darauf trocken und unnachsichtig: Wir werden feststellen, welche Bilder eingezogen werden müssen. Ich schreib mir alles auf, damit sie morgen abgeholt werden können.
Ich muß mir die Augen wischen, sagte der Maler. Wisch sie nur, sagte mein Vater, dabei wird sich nichts verändern. – Ihr wißt nicht mehr, was ihr tut, sagte der Maler, und da rutschte meinem Vater der Satz raus: Ich tu nur meine Pflicht, Max. Da sah ich auf die Hände des Malers, kräftige, erfahrene Hände, die er sachte hob vor dem Leib und schnell in die Luft greifen ließ, und ich verfolgte auch, wie er die Finger zuerst spreizte und dann zur Faust schloß, als sei dies eine Entscheidung. Die Hände meines Vaters dagegen hingen schlaff und bereit an der Hosennaht, zwei gehorsame Wesen, möchte ich mal sagen, jedenfalls machten sie sich nicht besonders bemerkbar. Gehen wir, Max? fragte er. Der Maler rührte sich nicht. Nur daß die sehn, ich hab meine Pflicht getan, sagte mein Vater, und der Maler plötzlich: Es wird euch nicht helfen. Es hat noch keinem geholfen. Holt euch, was euch Angst macht. Beschlagnahmt, zerschneidet, verbrennt: was einmal gewonnen ist, wird dableiben.
So kannst du nicht zu mir sprechen, sagte mein Vater. Zu dir? sagte der Maler, zu dir kann ich noch ganz anders sprechen: wenn ich dich nicht rausgeholt hätte damals, wärst du heute bei den Fischen.
Einmal muß man quitt sein, sagte mein Vater, und der Maler darauf: Hör zu, Jens, es gibt Dinge, die kann man nicht aufgeben. Ich habe damals nicht aufgegeben, als ich nach dir tauchte, und ich kann ebensowenig diesmal aufgeben. Damit du klar siehst: ich werde weiter malen. Ich werde unsichtbare Bilder machen. Es wird so viel Licht in ihnen sein, daß ihr nichts erkennen werdet. Unsichtbare Bilder.
Mein Vater hob die Hand, sichelte